Das Luzerner Theater führt die Verdi-Oper in einer seit Jahren stillgelegten Halle in der Viscosistadt Emmenbrücke auf. Wo einst mit Garn experimentiert wurde, werden nun menschliche Abgründe inszeniert.
Es ist Industrie-Nostalgie pur: Von den Decken hängen riesige Metallbehälter. Spinnpack, Dosierpumpe, Rührwerk und zahlreiche Ventile sind weitere Geräte, die daran erinnern, wozu dieser Raum früher diente: Der Herstellung von synthetischen Garnen. Wir befinden uns in einer der stillgelegten Fabrikhallen auf dem Areal der einstigen Viscosuisse in Emmenbrücke. Das labyrinthartig verwinkelte mehrstöckige Gebäude in der heutigen Viscosistadt hat nun einen neuen Verwendungszweck gefunden. Es wird zu einer Spielstätte des Luzerner Theaters. Dieses führt hier, inmitten von schaurig-schönem Industrie-Müll, Verdis Oper «Rigoletto» auf (Premiere am Sonntag).
Anstatt Fabrikarbeitern und Chemieingenieuren sind nun Theatertechniker, Schauspieler, Sänger und Musiker am Werken und Proben. Das pittoreske historische Industrie-Ambiente im Innern der Halle wurde für die «Rigoletto»-Produktion beibehalten. Ebenso die diversen Ebenen, mit teils durchsichtigen Gitterböden. Nur einige Trennwände wurden herausgerissen. In den Glanzzeiten der Viscosuisse in den 1970er-Jahren waren auf dem Industrieareal in Emmenbrücke bis zu 3000 Personen mit der Entwicklung und Herstellung von Garnen beschäftigt, die weltweit exportiert wurden. Das Gebäude, in dem nun«Rigoletto» aufgeführt wird, wurde in den 1950er Jahren errichtet – «im Zuge der Erfindung und industriellen Produktion von synthetischen Garnen, vor allem Nylon», steht im Programmheft des Luzerner Theaters. Pilothalle heisst das Gebäude. Es war ein Ort, an dem geforscht und experimentiert wurde. Neue Produkte und Herstellungsprozesse seien hier «pilotiert» worden: «Man arbeitete im 3-Schicht-Betrieb Tag und Nacht, produzierte bis zu 1,5 Tonnen Garn täglich und versah es mit Zusätzen.»
Es war eine Halle, die Normalsterbliche nicht betreten durften. Auch die meisten Viscosuisse-Mitarbeiter selber sahen sie wohl nie von innen. Streng geheim also? «Das nicht», sagt Elmar Ernst, stellvertretender Geschäftsführer der Viscosistadt AG, welche die städtebauliche Neugestaltung des einstigen Industrieareals vorantreibt. «Aber der Zutritt war schon beschränkt.» Ein Grund dafür war wohl, dass man Werkspionage verhindern wollte. Historische Fotografien vom Innern der Pilothalle mit darin arbeitenden Menschen hat Ernst nie gesehen. Ob es solche gibt, weiss er nicht. Die Pilothalle wurde im Lauf der Jahre ständig umgebaut und mit neuen Maschinen ausgestattet. Irgendwann in den späten 1990er-Jahren, jedenfalls vor dem Konkurs der Nachfolgefirma Nexis Fibers 2006, wurde ihr Betrieb eingestellt.
Nun füllt das Luzerner Theater das Gebäude mit neuem Leben. Die Suche nach «neuen Räumen» ist ein Ziel des neuen Theaterintendanten Benedikt von Peter. Hier, im industriellen Outback von Emmenbrücke, sind die Theaterleute fündig geworden. «Wir hörten, dass es hier eine solche Halle gibt», sagt Marco Štorman, der als neuer Hausregisseur des Luzerner Theaters den «Rigoletto» inszeniert. «Als wir sie sahen, war uns sofort klar, dass wir hier etwas machen. Wir wollen die Stadt Luzern neu bespielen und den Leuten sagen: ‹Nehmt eure Stadt anders wahr.› Luzern ist gerade daran, einen neuen Stadtteil zu bespielen; wir wollen Teil dieser Entwicklung sein.»
Štorman sieht das Viscosistadt-Gelände «als eine Art Metropolis». Eine Besonderheit der Pilothalle sei: «Der Blick nach hinten geht hinaus auf eine wüstenartige Öde; es ist wie Las Vegas.» Auch diese Aussicht soll Teil der Inszenierung werden. Die Stückwahl selber erfolgte erst, nachdem man sich für den Spielort entschieden hatte. Warum «Rigoletto», die Geschichte um den buckligen Hofnarren des Herzogs von Mantua, die tragisch endet? Dazu sagt die für die Bühne verantwortliche Frauke Löffel: «Die Pilothalle war über eine gewisse Zeit völlig verlassen. Auch Rigoletto ist ein verlassener Mensch.» Die Halle habe zudem «eine gewisse Schwere, mit all dem Stein, Beton, Stahl». Sie strahle eine gewisse Melancholie aus: «Auch das ist eine Parallele zu Rigoletto, der ebenfalls melancholisch ist», so Löffel. Die leere Fabrikhalle als «einsamer Narr» also.
Rigoletto sei «der vom Ort überholte Mensch», betont Löffel. Regisseur Štorman fügt an: «Es gibt in vielen Städten Industriebrachen, die eine junge, neue Generation an sich reisst und mit neuem Leben füllt. Dazu gehört, dass man Partys feiert.» Auch die Oper Rigoletto beginnt mit einem Ball, einem grossen Fest am Hof des Herzogs von Mantua. «In ‹Rigoletto› geht es um den Konflikt einer Generation, die von der neuen Zeit überholt wird», so Štorman. «Rigoletto ist der Vertreter der alten Generation, der das Neue nicht versteht. Er versucht es zwar, erkennt aber, dass es niemanden mehr gibt, an den er sich halten kann. Der Ort, an dem er sich befindet, ist für ihn nicht mehr zu gebrauchen.»
Rigoletto stehe für die Geschichte dieses speziellen Ortes, erklärt Frauke Löffel: «Das Gelände wird überschrieben.» Dies ist ein sehr konkreter Bezug zur Viscosuisse-Pilothalle. Diese wird nämlich nach der letzten «Rigoletto»-Aufführung im Dezember abgerissen. Ihr Schicksal erfüllt sich also – ähnlich jenem Rigolettos im letzten Akt der Oper. Die Pilothalle wird durch einen Neubau ersetzt – zur Erweiterung des direkt benachbarten umgebauten Fabrikbaus 745, in dem im September das Departement Design & Kunst der Hochschule Luzern in einer ersten Etappe sein neues Hauptgebäude bezogen hat. 850 Studierende und 140 Mitarbeitende sollen hier künftig Kunst und Design lernen, lehren und erforschen. Eine spannende, wenn auch völlig anders geartete Fortsetzung der früheren (Garn-)Forschung.
Hinweis
Vor den «Rigoletto»-Aufführungen gibt es Führungen durchs Viscosistadt-Gelände. Anmeldung bis spätestens zwei Tage vor der Führung: Telefon 041 228 14 14 oder kasse@luzernertheater.ch; Spieldaten «Rigoletto»: www.luzernertheater.ch.
Hugo Bischof
Der französische Industrielle Ernest Carnot gründete die Viscosefabrik in Emmenbrücke 1906. Sie nahm mit 60 Mitarbeitern an der Emmenweidstrasse die Produktion von Viscose-Kunstseide auf. 1922 wurde sie in eine Aktiengesellschaft nach Schweizer Recht umgewandelt. Das Unternehmen wuchs rasch. 1950/51 wurde die erste schweizerische Nylon-Fabrik in der heutigen Viscosistadt gebaut – im zentralen Gebäude, in dem heute die Monosuisse AG noch immer Garne produziert. Infolge globaler Umstrukturierungen wurde das Unternehmen ab 1989 verstärkt in internationale Grosskonzerne eingebunden. 2006 ging die Nexis Fibers AG in Konkurs. Auf dem 89 000 Quadratmeter grossen Areal entsteht jetzt und in den kommenden 20 bis 30 Jahren die Viscosistadt mit Wohnungen sowie Arbeits- und Ausbildungsplätzen.