Ein Requiem für Claudio Abbado und eine Art neue Anna Netrebko: Der Lucerne Chamber Circle ermöglichte mit Barockmusik ein Gedenkkonzert in Luxusbesetzung.
Das hatte man bisher im KKL-Konzertsaal nur in Konzerten von Claudio Abbado erlebt. Am Schluss erhob sich am Dienstag im Barockkonzert des Lucerne Chamber Circle das Publikum zur Standing Ovation und klatschte unbeirrt weiter, als die Solisten, der Dirigent und das ganze Orchester die Bühne verlassen hatten. Es war ein magischer Moment, weil man gebannt auf jene Tür blickte, durch die jeweils beim Schlusskonzert des Lucerne Festival Abbado zurückgekehrt war, um den Blumenregen seiner Fans allein entgegenzunehmen.
Tatsächlich war der am Montag verstorbene Magier im Konzert des Ensembles I Barocchisti der grosse Abwesende. Schon in der Pause wurde er zum Gesprächsthema. Konzertgänger brachten die Trauer über seinen Tod zum Ausdruck – und den Verlust für die Kunst und Luzern, wo vielen die Sternstunden mit ihm unvergesslich bleiben. «Der engelhafte Gesang», meinte eine Besucherin mit Blick auf den Countertenor Philippe Jaroussky, «war mit seinem Ausdruck, dass da oben alles gut ist, wie ein grosser Trost.»
Den zweiten Teil des Konzerts widmete der vom Orgelportativ aus dirigierende Diego Fasolis explizit dem verstorbenen Maestro: Im «Stabat Mater» von Pergolesi, sagte er zum Publikum, habe er selber mit Abbado während zweier Jahre zusammengearbeitet: «Wir spielen das jetzt für Claudio Abbado.»
Da konnten einem die Tränen schon zuvorderst stehen, als die ersten Klänge von Pergolesis Meisterwerk sich behutsam im Saal entfalteten. Reglose Geigenlinien und zwei Solistenstimmen, die sich wie Farbschichten überlagern, sich schmerzhaft aneinander reiben und in betörenden Wohlklang auflösen: ein schöneres Requiem für Abbado, der das Werk mit seinem Mozart-Orchester selber noch auf CD aufgenommen hat, hätte man sich nicht denken können.
Das galt auch für die Interpretation in dieser solistischen Luxusbesetzung. Der französische Countertenor Philippe Jaroussky hatte in Vivaldis «Nisi Dominus» seinen Spitzenrang mit gestochen scharfen, mühelos perlenden Koloraturen bewiesen. Im «Stabat Mater» nutzte er die Wendigkeit seiner Altus-Stimme für seismografisch erzitternde Ausdrucksnuancen und machte die «berauschende Liebe» zu Marias verstorbenem Sohn («Fac ut portem Christi mortem») zu einem innigen Höhepunkt.
Zum Überraschungsereignis wurde aber der Auftritt der phänomenalen Sopranistin Julia Lezhneva in diesem Werk. Den fulminanten Karrierestart der 24-jährigen Sängerin belegen zwar bereits CD-Aufnahmen – aktuell die «Stabat Mater»-Aufnahme in der Besetzung dieses Abends. Live im KKL war man dennoch überrumpelt und überwältigt. Denn Lezhneva fügte sich zwar mit schlank fokussierter Stimme nahtlos ein in die historisch informierte Wiedergabe durch das Tessiner Barock-Ensemble. Aber ihre Stimme hat doch die expressiv-dunkle Färbung und Fülle, wie man sie von russischen Stimmen kennt. Das war eine Mischung, die Vergleiche mit Anna Netrebko nahelegt. Und dass diese Stimme zum Theater drängt, bewies Lezhneva gleich in ihrer ersten Arie. Wo sie den Schmerz Marias sich in hochdramatischen Seufzern aus der «Schwert-durchbohrten» Seele sang, war es, als löste sich ihre Stimme vom Ensemble und flöge auf und davon.
Umso reizvoller war, wie die beiden Stimmen in den Duetten zusammenfanden und auch mit den Geigenklängen der Barocchisti irritierend verschmolzen. Auch wenn die instrumentalen Beiträge zum Auftakt nicht dieselbe Intensität erreichten: Mit Vivaldis Streichersinfonia «Al santo sepolcro» hatte das Orchester das Requiem-Thema eröffnet. Und als ganz zum Schluss alle Ausführenden auf die verwaiste Bühne zurückkehrten, fand dieses Gedenkkonzert nochmals einen ereignishaften Abschluss: Wie in der Kadenz von Scarlattis «Salve Regina» die beiden Solostimmen im feinnervigen Kitzel zart entschwebten und verschmolzen, war definitiv eine Schönheit wie nicht von dieser Welt. Ein denkwürdiger Konzertabend.