Unsere Autorin Regina Grütter über eine der schönsten Bibliotheken der Welt – und ihren Wunsch, eine Zeit lang im Kloster zu leben.
Die Bibliothek als Hort des Wissens, als Ort des Selbststudiums. Die Bibliothek aber auch als Rückzugsstätte. Sich einmal im Leben für ein paar Wochen in ein Kloster zurückzuziehen, ist schon länger ein diffuser Traum von mir. Und ein unrealistischer. Möchte ich mich doch von den täglichen Klosterritualen und vom strukturierten Tagesablauf ausnehmen. Vielmehr den ganzen Tag in der Bibliothek verbringen und lesen oder mich einfach meinen Tagträumen hingeben. Zwischendurch ein Spaziergang. Zugegeben, vielleicht würde mich das schon nach ein paar Tagen langweilen.
Wie gesagt ein vager und entfernter Traum, der etwa beim Betreten der Stiftsbibliothek Einsiedeln, 934 gegründet, wieder an die Oberfläche tritt. Oder jetzt, beim Betrachten des Royal Portuguese Cabinet of Reading in Rio de Janeiro – vom «Time Magazine» zur viertschönsten Bibliothek der Welt gewählt. Was für ein Arbeitsort! Jeferson Deodata da Silva, der da die Leiter besteigt, verschmilzt mit der Umgebung. Es gibt Räume, die nehmen einen in sich auf und berühren die Seele.
Bibliotheken waren nie einfach ein Aufbewahrungsort für Bücher. Sie erzählen Geschichten. In der mittelalterlichen Klosterbibliothek sieht man vor dem geistigen Auge den Mönch konzentriert an der Abschrift eines antiken Textes arbeiten. Vielleicht auch eine Frau in Männerkleidern, wie es erwiesenermassen einige gab. Man kennt die Legende von der Päpstin Johanna, die ihr Leben nicht nur Gott widmen wollte, sondern auch einen Anspruch auf Bildung erhob.
Das Real Gabinete Português de Leitura wurde 1837 von portugiesischen Einwanderern – politischen Flüchtlingen – gegründet, um die heimische Kultur in der portugiesischen Gemeinde in Brasilien zu verbreiten. Das Kabinett verfügt über die grösste Sammlung portugiesischer Literatur ausserhalb Portugals.
Die Bibliothek als Refugium und als Ort, wo Wissen und Kultur bewahrt werden – und deshalb auch immer wieder mutwilliger Zerstörung ausgesetzt war und ist. In diesem Fall auch ein Raum, von dessen Schönheit man ergriffen ist. Der Traum von einer Auszeit nur umgeben von Büchern jedenfalls erlebt eine Renaissance.