Interview
Urs Rüegsegger über Börsengänge: «Spannend, lehrreich, wertvoll»

Für den Schienenfahrzeugbauer Stadler ist ein Börsengang eine Option. Ein profunder Kenner der Materie ist Urs Rüegsegger. Der ehemalige Geschäftsleiter der St. Galler Kantonalbank hat diese einst an die Schweizer Börse gebracht und war später deren Chef.

Thomas Griesser Kym
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«Wir waren alle sofort zugedeckt mit Aufträgen»: Urs Rüegsegger über das Kick-off-Meeting des Börsengangs der St. Galler Kantonalbank. (Bild: Hanspeter Schiess (St.Gallen, 8. Oktober 2014))

«Wir waren alle sofort zugedeckt mit Aufträgen»: Urs Rüegsegger über das Kick-off-Meeting des Börsengangs der St. Galler Kantonalbank. (Bild: Hanspeter Schiess (St.Gallen, 8. Oktober 2014))

Urs Rüegsegger, wie ist Ihnen die Zeit vor dem Börsengang der St.Galler Kantonalbank (SGKB) in Erinnerung geblieben?

Als ungemein spannende und arbeitsintensive Phase. Die Vorbereitung des Börsengangs war extrem lehrreich, sie hat mir eine Welt geöffnet, zu der ich davor keinen Zugang hatte, jene des Kapitalmarktes. Dessen Mechanismen zu verstehen, war sehr wertvoll. Zudem war der Börsengang eine Erfahrung, die man nur einmal im Leben macht.

Die Vorbereitung dauerte gut ein halbes Jahr. Wie hat es begonnen?

Am Kick-off-Meeting nahmen rund ­ 80 Leute teil. Dann dauerte es keine sechs Stunden, bis das Projekt hochgefahren war. Es gab keine Anlaufphase. Wir waren alle sofort zugedeckt mit­ Aufträgen. Vieles kam durch Learning by Doing zu Stande, indem uns die ­Investmentbank durch einen sehr strukturierten Prozess geführt hat.

Wesentliches Element war die Erstellung des Emissionsprospekts. Wie lief das ab?

Erstellt wird der Prospekt, ein Wälzer von 150 Seiten, vor allem von Juristen und Revisoren. Jede Woche besprachen wir gemeinsam die aktuellste Version. Dies dauerte jeweils sechs bis fünfzehn Stunden. Man geht Punkt für Punkt des Berichts durch, schaut, was neu dazugekommen ist, es gibt Korrekturen, neue Vorschläge usw.

Die SGKB ging am 2. April 2001 an die Börse. Das Umfeld war ungünstig, nach dem Platzen der Dot-com-Blase waren viele Investoren verunsichert. War es ein Thema, den Börsengang zu verschieben?

Wir waren auf Roadshow im Ausland, dann im Kanton St. Gallen, und haben in einem Hotel am Flughafen Zürich übernachtet, um das Vorhaben ein letztes Mal erneut im Ausland vorzustellen. Aufgrund der Stimmung an den Finanzmärkten haben wir damals damit gerechnet, dass das Projekt gestoppt wird.

Die Regierung des Kantons St. Gallen, der Alleineigentümer der SGKB war, entschied anders, die Aktie wurde zu 160 Franken emittiert. Kritiker sagten, das sei zu günstig, zumal sich der Kurs in den Folgejahren mehr als vervierfacht hat.

Angesichts der damals herrschenden Nervosität an den Börsen war unser Emissionspreis keinen Franken zu tief. Wir haben den Aktienkurs zunächst gehalten, während andere Papiere deutlich an Wert verloren. Geholfen hat uns, dass wir eine grundsolide Value-Strategie verfolgten: eine solide, bodenständige Bank mit nachvollziehbarer Strategie. Damit haben wir uns von den spekulativen Dot-coms, von denen viele zerbröselt sind, abgehoben.

Inwieweit verändert ein Börsengang die Unternehmenskultur?

Kolossal. Zum einen die Art und Weise, wie wir Gremien besetzt und wie diese gearbeitet haben. Es hat eine Professionalisierung ohnegleichen stattgefunden, auf allen Stufen. Zum anderen hat sich eine Aufbruchstimmung unter den Mitarbeitenden ausgebreitet. Die öffentliche Ankündigung des Börsengangs hat eine Vorwärtsperspektive kreiert, die für viele ansteckend war. Und wir haben die Generalversammlung bewusst als Marketingevent und damit als gesellschaftliches Ereignis ausgelegt.

Im Geschäftsbericht der SGKB des Jahres 2001 schrieben Sie, es «ergeben sich aus den Gesprächen mit Analysten und grösseren Investoren immer wieder wertvolle Impulse für Geschäftsleitung und Verwaltungsrat». Inwiefern?

Weil man Leuten gegenübersitzt, die auf ihren Notebooks die Unternehmensstrategie anhand der Finanzflüsse modellieren. Wir sprachen beispielsweise über unsere Wachstumspläne betreffend Kundenvermögen oder die beabsichtigte Entwicklung der Marge. Darauf erhielten wir ein unmittelbares Feedback: Funktioniert das? Wie funktioniert es? Wie machen es andere, vergleichbare Banken? Diese Feedbacks flossen dann in unseren Strategieprozess ein.

Nach Ihrer Zeit als Projektleiter Börsengang der SGKB und dann als deren Chef waren Sie Chef der Schweizer Börse SIX. Haben Sie in diesen Jahren gute und weniger gute Börsengänge beobachtet?

Die Börse prüft die Börsenkandidaten nur formell auf Ihre Eignung, nicht materiell, also nicht die Strategie oder die Fähigkeiten des Managements. Es gibt aber immer gute und weniger gute Unternehmen. Zentral für das Gelingen eines Börsengangs und die Zeit danach sind zwei Elemente: Ein glaubwürdiger Investment Case mit einer Strategie, die man über drei bis fünf Jahre umsetzen kann, und eine gewisse Börsenkapitalisierung. Sehr klein kapitalisierte Unternehmen verschwinden bald einmal von der Bildfläche, werden nicht mehr mit Research abgedeckt und drohen bei ­Investoren aussen vor zu bleiben.

Heute ist viel mehr Private Equity im Spiel als früher: Beteiligungsgesellschaften kaufen eine Firma und bringen Sie nach einer gewissen Zeit an die Börse. Woher dieser Wandel?

Der Private-Equity-Markt ist über die Jahre stark gewachsen. Es ist viel Kapital verfügbar, das Anlagemöglichkeiten sucht. Zudem hat dieses Geschäfts­modell einige Erfolge vorzuweisen. Das hat Nachahmer auf den Plan gerufen.

Zur Jahrtausendwende platzten viele Börsenneulinge wie Seifen­blasen, nachdem sie zuvor extrem hochgejubelt worden waren. Kann es eine solche Dot-com-Blase heutzutage auch wieder geben?

Es gibt immer noch Bewertungen von Technologiefirmen, die mit traditionellen Kennzahlen nicht zu begründen sind. Nehmen Sie als Beispiel Tesla.

Tesla hat mit seinen Elektroautos immerhin ein Geschäftsmodell, das die Leute verstehen und als zukunftsträchtig gilt. Damalige Softwarefirmen wie Miracle oder Day hatten nicht einmal ein Produkt.

Einverstanden. Auch wenn damals teils nur warme Luft produziert wurde, lässt sich doch rückblickend sagen: In dieser Periode wurden die Voraussetzungen geschaffen, das Internet zu einem wichtigen Produktionsfaktor zu machen. Es ist heute nicht mehr wegzudenken, hat viele Branchen grundlegend verändert und ganz neue Geschäftschancen eröffnet.

Was hielten Sie davon, wenn der Schienenfahrzeugbauer Stadler an die Börse ginge?

Ich will und kann die Firma nicht materiell bewerten. Doch Stadler wäre eine echte Bereicherung für die SIX als traditionelle Industriefirma, in der aber auch die Digitalisierung eine immer wichtigere Rolle spielt. Die Schweiz hat keine Technologiekonzerne wie Apple, Amazon oder Facebook hervorgebracht, aber was die Schweiz versteht: die Old Economy mit der Digitalisierung verbinden. Darin liegt eine riesige Chance.

Vertraut mit der Börse

Urs Rüegsegger, Jahrgang 1962, war seitens der St. Galler Kantonalbank (SGKB) und zusammen mit einem Investmentbanker der federführenden UBS Projektleiter des Börsengangs der SGKB, der am 2. April 2001 stattfand. Danach präsidierte Rüegsegger bis 2008 deren Geschäftsleitung und arbeitete anschliessend bis Ende 2017 als Chef der Schweizer Börsenbetreiberin SIX Group. Seit Anfang Monat ist er als erster Schweizer Vorsitzender des Weltbörsenverbandes WFE mit Sitz in London. (T. G.)

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