Ein Pariser Gericht spricht Christine Lagarde in einer Veruntreuungsaffäre der Nachlässigkeit schuldig, verzichtet aber auf eine Strafe. Doch jetzt berät der IWF, ob Lagarde dessen Chefin bleiben kann.
Stefan Brändle/Paris
Damals schien das Ganze eine blosse Formalität: Als französische Wirtschaftsministerin billigte Christine Lagarde 2007 ein Schiedsgericht, das den Fussballmanager Bernard Tapie für dessen verlustreichen Verkauf des Sportartikelherstellers Adidas an die Staatsbank Crédit Lyonnais entschädigen sollte. Lagardes Entscheid war von höchster Stelle, nämlich durch Präsident Nicolas Sarkozy, gedeckt, wahrscheinlich sogar arrangiert worden; Lagarde brauchte die Vereinbarung nur noch zu unterschreiben.
Gestern kam der Gerichtshof der Republik zum Schluss, Lagarde habe eine «Nachlässigkeit» begangen, indem sie das Arrangement nicht angefochten habe. Die Gerichtspräsidentin erklärte, es habe sich nicht um einen «unglücklichen politischen Entscheid» gehandelt, wie Lagarde behauptet habe. Vielmehr hätte sie durchaus die Wahl gehabt, eine andere Prozedur zu wählen.
Zugleich machte das Gericht klar, dass es «den internationalen Ruf» Lagardes berücksichtigen wolle. Mit diesem erstaunlichen Argument verzichtet das Spezialgericht für französische Spitzenpolitiker auf eine Strafe. Der Schuldspruch gegen Lagarde führt denn auch nicht zu einem Eintrag im Vorstrafenregister. Möglich gewesen wäre ein Strafmass von bis zu einem Jahr Haft. Ob Lagarde das Urteil an den französischen Kassationshof weiterzieht, liess ihr Anwalt gestern offen. An der Urteilsverkündung nahm Lagarde nicht teil; sie war schon am Wochenende an den Sitz des internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington zurückgeflogen. Die grosse Frage, ob Lagarde mit dieser Halbverurteilung den IWF weiterhin leiten kann, bleibt vorerst offen. IWF-Sprecher Gerry Rice sagte gestern, der Exekutivausschuss werde wie früher schon «kurzfristig» zusammentreten, um die jüngsten Entwicklungen des Pariser Gerichtsfalles zu «beraten». Bei früheren Gerichtsetappen hatte der Ausschuss Lagarde stets das Vertrauen ausgedrückt.
Auf jeden Fall kommt das Urteil zu einem schlechten Zeitpunkt für den IWF. Dieser hatte Lagarde erst im Februar dieses Jahres für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Ihr Rücktritt würde die Finanzinstitution in Turbulenzen stürzen. Schwellenländer nähmen ihn zum Anlass, den Druck auf die Industriestaaten zu erhöhen. Diese teilen sich den Vorsitz der beiden Bretton-Woods-Organisationen – die Amerikaner leiten die Weltbank, die Europäer den IWF. Lagarde galt trotz Kritik namentlich aus dem Schuldnerland Griechenland als Konsensfigur: Sie sorgte stets für den Ausgleich zwischen unnachgiebigeren und sozialer eingestellten Kreditgeberländern. Ihre Demission würde dieses labile Gleichgewicht aushebeln und den IWF in eine Führungskrise stürzen.
Das Verdikt gegen Lagarde ist eine kleinere Überraschung: Der Staatsanwalt hatte am Freitag einen Freispruch gefordert. Die IWF-Chefin hatte sich in der Verhandlung allerdings schlecht verteidigt. Sie erklärte, sie habe als Ministerin täglich eine Reihe von Entscheiden absegnen müssen, die ihre Mitarbeiter vorbereitet hatten. Der damalige Vorsteher des Schatzamtes, Bruno Bézard, sagte aber letzte Woche im Prozess, er habe das Schiedsgericht als «äusserst gefährlich» bezeichnet. Lagarde setzte sich darüber hinweg und bot Hand zur Zahlung an Tapie. Auf die Frage der Gerichtspräsidentin, ob ihr denn die Höhe des Geldbetrags nicht «kolossal» erschienen sei, antwortete die nun Verurteilte nur: «Was hätte das juristisch schon geändert?» Im Verlauf der Verhandlung räumte sie ein: «Wir sind ja irgendwie alle ein wenig nachlässig.» Dieser Satz wird ihr heute in Frankreich angekreidet: «Schon, aber irgendwie bringt die Nachlässigkeit von uns allen die Steuerzahler nicht um 400 Millionen», frotzelte das Satireblatt «Le Canard Enchaîné».
Lagarde sagte zudem, sie fühle sich in der Affäre selber «missbraucht». Durch wen, wollte sie aber trotz mehrmaligen Nachfragens der Richter nicht sagen. Heute ist die Frage nicht mehr von höchster politischer Brisanz: Sarkozy hat eine neue Präsidentschaftskandidatur unlängst verpasst und sich zumindest vorläufig aus der Politik zurückgezogen.