Der amerikanische Onlinehändler steht offenbar kurz vor dem Eintritt in den Schweizer Markt. Es ist Zeit für einen Lohnvergleich.
Daniel Zulauf
Amazon will die Schweiz erobern. Und das zu unschlagbaren Preisen. Die freudige Kunde hat Schweizer Konsumenten letzte Woche ereilt. Weniger erfreut ist die Konkurrenz: Der bevorstehende Markteintritt des weltgrössten Onlinehändlers hat die hiesigen Platzhirsche aufgeschreckt. «Wer nicht vorne mitspielt, wird es schwieriger haben als zuvor», sagte Daniel Rei vom Aargauer Handelsunternehmen Brack der «Netzwoche». An der gleichen Stelle prophezeite Digitec-Galaxus-Chef Florian Teuteberg: «Für den stationären Detailhandel spitzt sich die schwierige Lage weiter zu.»
Hüben und drüben scheint man sich einig zu sein, dass auch die Schweizer Konsumenten die Ankunft des amerikanischen Giganten kaum erwarten können. Aussagen des Amazon Deutschland-Chefs Ralf Kleber im Wirtschaftsmagazin «Bilanz» hatten die Kunde losgetreten. Der Artikel lässt einen leicht euphorischen Unterton anklingen, und er zitiert die Amazon-Manager mit bemerkenswert servilen Aussagen. «Der Schweizer Kunde ist extrem wichtig. Amazon möchte ihn nicht enttäuschen», erklärt Deutschland-Chef Ralf Kleber, der die Invasion über den Rhein offenbar anführen soll. Eine Hürde, welche die Schweiz während langer Jahre von Direktlieferungen aus dem Europäischen Binnenmarkt abgeschirmt hatte, soll nun offenbar mit Hilfe der Post überwunden werden. Künftig will der Gelbe Riese die Verzollung der Amazon-Päckli übernehmen, um diese auch innert 24 Stunden ausliefern zu können.
Während Amazon bei den künftigen Schweizer Kunden unbestrittenermassen mit dem grössten Sortiment punkten dürfte, sind die Preisvorteile des weltweiten Marktführers nur scheinbar eindeutig. Die «Bilanz» zitiert einen Preisvergleich der Beratungsfirma Skyadvisory, in dem die Amerikaner phänomenal obenausschwingen. So seien ihre Produkte inklusive Lieferung gemessen an einem Warenkorb 38 Prozent günstiger als bei Migros und 36 Prozent billiger als bei Coop. Im Vergleich mit Galaxus sollen Amazon-Artikel sogar 44 Prozent tiefere Preise haben und gegenüber Brack betrage der Vorteil immer noch 21 Prozent.
Was in diesem Warenkorb drinsteckt, bleibt allerdings auch auf Nachfrage unserer Zeitung das Geheimnis von Skyadvisory. Für den erfahrenen E-Commerce-Spezialisten Thomas Lang von der Beratungsfirma Carpathia sind solche pauschalen Preisvergleiche jedenfalls nicht spontan nachvollziehbar, zumal sich einige führende Schweizer Händler beispielsweise im Bereich der Elektronik in Europa kaum verstecken müssten.
Offensichtlich ist allein das grosse Lohngefälle. Die 12000 «Picker», Verpacker und sonstigen Lagerarbeiter, die Amazon in ihren Logistikzentren in Deutschland beschäftigt und die inskünftig auch einen Grossteil der in der Schweiz bestellten Ware bereitstellen werden, verdienen im Mittel etwa halb so viel wie ihre Berufskollegen in der Schweiz (vgl. Tabelle). Der durchschnittliche Einstiegslohn eines ungelernten Amazon-Arbeiters beläuft sich in Deutschland gemäss Angaben der Firma auf umgerechnet 10.52 Euro pro Stunde, was 1767 Euro oder rund 2060 Franken im Monat entspricht.
Im Vergleich dazu kommen die 360 Lagermitarbeiter von Digitec/Galaxus in Wohlen etwa auf das Doppelte, allerdings bei einer um 11 Prozent höheren Wochenarbeitszeit. Länger gearbeitet wird auch in den Logistikzentren von Brack in Willisau (170 Leute), von Coop@home in Spreitenbach und Bussigny (317 Mitarbeiter) oder von LeShop in Bremgarten und Ecublens (200 Mitarbeiter). Doch diese Mehrarbeit wird überall in der Schweiz weit überproportional entlöhnt. Die Löhne sind in der deutschen Amazon-Belegschaft ein heisses Thema. Die Gewerkschaften wollen den Handelskonzern dazu bringen, einen Tarifvertrag zu unterschreiben. Doch dieser sagt: «Wir beweisen jeden Tag aufs Neue, dass man keinen Tarifvertrag braucht, um ein fairer und verantwortungsvoller Arbeitgeber zu sein.»
Die regelmässigen Streiks, mit denen die Gewerkschaften den Betrieb der Amazon-Logistikzentren in Deutschland behindern, sprechen allerdings eine andere Sprache. Die letzte grössere Streikwelle am «Black Friday» der vergangenen Woche fiel zeitlich exakt mit dem Erscheinungstag des «Bilanz»-Artikels zusammen, der den Schweizer Konsumenten eine freudige Kunde überbringen wollte. Doch wer Preise vergleicht, sollte nie vergessen, auch die Löhne zu vergleichen, denn erfahrungsgemäss sind tiefe Preise eine Folge tiefer Löhne – und nicht umgekehrt.