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Auf der Internet-Plattform YouTube machte sich der Finanzanalyst Keith Gill unter dem Pseudonym «Roaring Kitty», brüllendes Kätzchen, einen Namen. Nun ist der 34-Jährige das Gesicht des Rummels um die Aktie der Ladenkette Gamestop.
Die Party ist vorbei. Am Dienstag brach der Aktienkurs des Elektronik-Detailhändlers Gamestop erneut stark ein. Und statt 347,5 US-Dollar, wie noch in der vergangenen Woche, kostete das Wertpapier um 18:00 Uhr plötzlich nur noch 114.85 Dollar.
Ein Mann kann diese Buchverluste verschmerzen: Der 34 Jahre alte Keith Gill, wohnhaft in einem Vorort von Boston (Massachusetts). Insidern ist der Mann, der eine Vorliebe für ein rotes Haarband hat, unter dem ungehobelten Beinamen «DeepFuckingValue» bekannt. So nennt sich Gill im Internet-Forum «WallStreetBets» auf der Plattform Reddit – der eigentlichen Triebfeder der Gamestop-Blase, der nun die Luft ausgegangen ist.
Gill, der gemäss dem «Wall Street Journal» bis vor kurzem für ein Versicherungsunternehmen arbeitete, handelt seit eineinhalb Jahren mit Aktien der Ladenkette. Gemäss einem Screenshot seines Portfolios, den er am Montag veröffentlichte, besitzt er immer noch gegen 50'000 Gamestop-Aktien. Weil er aber durchschnittlich weniger als 15 Dollar pro Aktie bezahlte, sitzt er auch nach dem jüngsten Kurseinbruch immer noch auf einem potenziellen Millionen-Vermögen.
Auch scheint Gill weniger verbissen zu sein als einige seiner Mit-Spekulanten, die sich auf Reddit gegenseitig Durchhalteparolen zurufen und schwören, bis zuletzt gegen die verhassten Hedgefonds zu kämpfen. So verdiente Gill allein im vergangenen Monat gegen 13,8 Millionen Dollar, weil er sich rechtzeitig von Gamestop-Papieren trennte.
Der 34-Jährige, der auf eine Anfrage dieser Zeitung nicht reagierte, sieht sich nicht als Revolutionär. Gamestop habe im Sommer 2019 sein Interesse geweckt, weil er an das Potenzial der Ladenkette mit ihren mehr als 5000 Filialen glaubte. Vergleiche zu Blockbuster, der einst allgegenwärtigen Videothek, die aufgrund des Technologiewandels das Handtuch werfen musste, fand Gill unpassend – auch wenn Hedgefonds Millionen-Wetten auf einen baldigen Kurszerfall der Gamestop-Aktie abschlossen. «Es war eine grobe Fehlbeurteilung der Gelegenheit, die sich bot», sagte er dem «Wall Street Journal».
Also griff er zu, zuerst zurückhaltend und dann immer energischer. Im September 2019 umfasste Gills Portfolio 1000 Gamestop-Aktien und 1000 Optionen. Ein Jahr später waren es bereits 10'000 Wertpapiere und 5000 Optionen. Auf neugierige Fragen seiner Weggefährten, die sich auf dem Forum «WallStreetBets» austauschen, antwortete Gill mit einem fröhlichen «YOLO», die englische Abkürzung des Sinnspruchs «Man lebt nur einmal». Die Gemeinschaft der Day-Trader, die von zu Hause aus an der Börse spekulieren, unterhielt er derweil auf seinem eigenen YouTube-Kanal, auf dem er wechselweise über die Marktchancen von Gamestop und seine Vorliebe für belgisches Bier sprach. (Sein Favorit? Delirium Tremens, gebraut seit 1988 in Melle.)
In seiner Jugend war Gill ein Langstreckenläufer, dessen Bestzeiten national auf Aufmerksamkeit stiessen. Eine Verletzung an der Achillessehne durchkreuzte aber seine Träume. Einen College-Abschluss als Buchhalter in der Tasche zog er 2009 nach New Hampshire; dort begab er sich unter die Fittiche eines Mentors und liess sich zum diplomierten Finanzanalysten ausbilden. Gemäss der Finra (Financial Industry Regulatory Authority), einer privaten Aufsichtsbehörde, besitzt Gill seit fast zehn Jahren eine Lizenz als Aktien-Broker.
Vom Rummel um seine Person wurde der Vater einer zwei Jahre alten Tochter allerdings auf dem falschen Fuss erwischt. «Ich habe dies nicht erwartet», sagte Gill vorige Woche. Im Gespräch mit dem «Wall Street Journal» beteuerte er zudem, dass er nichts Illegales oder Unehrliches gemacht habe, als er über seine Investitionen in Gamestop-Aktien sprach – obwohl doch Beobachter zumindest ein Fragezeichen hinter seine Reddit-Beiträge und YouTube-Programme setzen.
Gill hat sich noch keine Gedanken über seine Zukunft gemacht. Vorerst wolle er sein Programm auf YouTube, das den Namen «Roaring Kitty» trägt, weiterführen. Und vielleicht werde er dereinst, mit all dem Geld, das er während den vergangenen Wochen verdiente, in seiner Heimatstadt Brockton eine Leichtathletik-Anlage bauen. Dies sei schon immer sein Traum gewesen. «Und nun sieht alles danach aus, als ob ich dies tatsächlich tun könnte.»