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Im Mai 2008 verabschiedete sich der FC St.Gallen vom Espenmoos und zog ins moderne Stadion am Winkler Autobahnkreuz. Ein Schritt von der Improvisation zur Funktionalität, der nicht allen gefiel – und bis heute die Geister scheidet.
Der allerletzte Torjubel vor der Südkurve im Espenmoos liegt zehn Jahre zurück. Er war dem Gegner vorbehalten. Senad Lulic freute sich am 20. Mai 2008, in der Nachspielzeit des Barragespiels des FC St.Gallen gegen Bellinzona, über sein 2:0. Die Hintergrundkulisse seines Jubels: eine Reihe von rund 50 Polizisten in Schutzkleidern und mit Schildern, die sich hinter der Torauslinie aufgereiht hatten. Gleich dahinter Fans, die zwischen Ernüchterung und Wut schwankten. Kurz darauf sassen St.Galler Spieler wie Marc Zellweger oder Philipp Muntwiler weinend auf dem Rasen, machten sich dann auf in Richtung Kabine, der Abstieg war Tatsache.
Der Rest war eine lange, wüste Geschichte: Die zig Polizeibeamten reichten nicht aus, den Platzsturm abzuwehren. Werbebanden, Sitze, die Goals, vieles ging zu Bruch. Gut 120'000 Franken Sachschaden, 59 Verhaftungen, später eine Foto-Fahndung, eine Handvoll Verurteilungen. Der Eskalation war eine lange Fehde zwischen Verein, Fans und Polizei vorausgegangen – was Details im neuen Stadion, aber auch die Verabschiedung des Espenmoos anging. Fans machten sich für eine Souvenirjagd nach dem Spiel stark, die Polizei bestand darauf, das Spielfeld unversehrt zu lassen, da noch Nachwuchsspiele anstünden. Randalier-Touristen und der Abstieg machten aus der ganzen Sache ein noch giftigeres Gemisch, dem die Polizei nicht standhielt. Ein paar Dutzend Fans nahmen auseinander, was ihnen doch geliebte Heimat geworden war.
Es war ein unrühmliches Ende. Und irgendwie schien es, als bäumte sich das kleine, wilde Stadion im Osten der Stadt noch einmal auf gegen die neue Fussballwelt, die sich auch in St.Gallen ihren Weg bahnte. Sicherheitsfragen, Verkehrsregimes, Fanführung: Solche Begriffe schienen dem Espenmoos den Garaus zu machen, dem Stadion, in dem 1910 erstmals ein Heimspiel des FC St.Gallen ausgetragen wurde. Das allmählich wuchs, das 1969 die charakteristische halbrunde Calzavara-Haupttribüne erhielt. Ihr wurde Anfang der 1980er-Jahre eine gedeckte Gegentribüne gegenübergestellt. Allmählich wurde es ein Flickwerk, wie eine zusammengebastelte, aber heimelige Ritterburg aus Kinderjahren, die der Gegner zuerst einmal erobern musste. Und in der im Jahr 2000 eine überraschende Meisterparty gefeiert wurde.
Dass es in der immer mehr auf Hochglanz getrimmten obersten Liga im Flickenkleid nicht weitergehen konnte, war den meisten Anhängern schon Anfang der 2000er-Jahre klar. Zumal man internationale Spiele aus Sicherheitsgründen unterdessen in Zürich austragen musste. Ein neues Stadion konnte aber nicht alleine auf dem Buckel des Vereins und der Behörden finanziert werden, es bot sich wie andernorts eine Mantelnutzung an: Shopping-Arena, Ikea, FC St.Gallen, das Ganze am Autobahnkreuz in Winkeln. Irgendwie schien das zum rebellischen Favoritenschrecken und der Heimmacht FC St.Gallen nicht mehr zu passen, so fanden viele. Die Fans liebten doch eigentlich den Aussenseiterstatus, den man mit dem Espenmoos schlicht besser verkörperte. Es wurden in dieser Zeit viele drastische Wortbilder gebraucht: Vom farbigen Quartier ging es ans graue Autobahnkreuz, der Fussballfan wurde zum Fussballkonsumenten.
Grob kann man von drei Lagern reden, die sich in jener Zeit bildeten. Ein erstes, das mit dem Club abgeschlossen hatte, und bis heute keine Spiele mehr besucht. Ein zweites, das mit nostalgischen Gefühlen ans Espenmoos zurückdenkt. Das Holzbretter dem Betonuntergrund vorzöge, lieber 11'000 Zuschauer im vollen Espenmoos als gleich viele in einem halbleeren neuen Stadion sähe, sich aber mit den neuen Gegebenheiten arrangiert. Und jenes dritte, das froh ist, nicht mehr im Quartier nach Parkplätzen suchen zu müssen, an der Kasse kein Kleingeld mehr aus der Tasche ziehen zu müssen - und den Kopf bei St. Galler Chancen nicht mehr über den vor ihm Stehenden heben zu müssen.
Wie gross das zweite Lager ist, zeigt unter anderem die Espenmoos-Ausgabe des Fanmagazins «Senf», die Anfang Jahr veröffentlicht wurde. «Das Stadion atmete», so der Grundtenor. Wunderbare Details sind beschrieben, wie jene Momente, als man auf der Gegentribüne wegen der gereckten Hälse einen Treffer nicht etwa sah, sondern nur wahrnahm ob der hüpfenden Menge hinter dem Tor.
Auch Matthias Hüppis Rhetorik lebt vom Espenmoos, das Rebellen-Image des Clubs hätte der Präsident gerne zurück, «wie damals, als man im Espenmoos am liebsten eine Piratenflagge aufgehängt hätte». Und es ist eine der grossen Herausforderungen von Hüppi: dass die St.Galler Piraten auch im Massanzug, sprich im neuen Stadion, funktionieren wie einst. Sicher ist: Die Espenmoos-Nostalgie wird sich mit den kommenden Generationen abschwächen. Auch der Kybunpark wird in die Jahre kommen, vielleicht noch einige Male seinen Namen ändern, Ecken und Kanten bekommen. Schon jetzt ist der Beton nicht mehr ganz unbeschrieben – Geschichten setzen sich fest. Und wenn Fans davon schwärmen, im Espenmoos das erste Bier getrunken zu haben: Viele junge Fans taten dies im Kybunpark. Oder sie werden es tun.
Wobei, zugegeben: Dass es im Westen gleich heimelig und magisch werden kann wie damals im Osten, das kann sich niemand so richtig vorstellen, der das Espenmoos einst selbst erlebt hat.