Fussball-Abenteuer: Ex-St.Galler Marco Aratore schwärmt von Russland

Sein Ziel war das Ausland oder der FC Basel. Nun spielt Marco Aratore für Ural Jekaterinburg in der höchsten russischen Liga. Von aussen betrachtet wirkte der Schritt des früheren St.Gallers überstürzt. Doch dem 27-Jährigen gefällt das Abenteuer Russland.

Christian Brägger
Drucken
Marco Aratore (rechts) im Zweikampf mit Zenits Christian Noboa.(Bild: Imago, Mike Kireev, 19. August 2018, St.Petersburg)

Marco Aratore (rechts) im Zweikampf mit Zenits Christian Noboa.
(Bild: Imago, Mike Kireev, 19. August 2018, St.Petersburg)

Die beiden kleinen Söhne sind gerade im Futsal-Training, als Marco Aratore an diesem Abend den Hörer abnimmt. Die Stimme tönt klar, als wäre sie nah. Dabei befindet sich der ehemalige Spieler des FC St. Gallen 3600 km entfernt in Jekaterinburg, Oblast Swerdlowsk, östlich des Ural­gebirges; um genau zu sein, steht er auf asiatischem Boden.

Aratore beginnt zu erzählen vom neuen Fussballerleben in Russland, vom Volk in der 1,5-Millionen-Stadt, der viertgrössten des Landes. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, das war früher nicht immer der Fall. Bewahrt hat er sich den aus der St.Galler Zeit bekannten Dialekt, den ein Secondo-Italiener aus ­Basel eben haben kann. Von der Stadt, die aufgemotzt wurde und Gastgeber für vier WM-Spiele war, hat der 27-Jährige nach dem Wechsel Mitte August einiges ­gesehen, «mega und modern» sei das alles hier. Einmal begleitete ein TV-Team ihn einen Tag lang und zeigte Sehenswürdigkeiten, die Kathedrale auf dem Blut, die Oper, das Sewastjanow-Haus, den Fluss Isset. Aratore ­gerät ins Schwärmen.

Der erste Einsatz vor 68'000 Zuschauern

Mit der Familie, die im September nachkam, hat Aratore mitten im Zentrum im sechsten Stock eines Hochhauses eine möblierte Wohnung bezogen. «Es gibt ­natürlich Momente, die nicht so einfach sind in Russland», sagt er nun. «Wenn die beiden Kinder zum Beispiel nach den Grosseltern fragen.» Aber die Neugier, die Lust auf die fremde Kultur und Mentalität überwiegten. Und der erste Einsatz in St.Petersburg gegen Zenit vor 68'000 Zuschauern nur wenige Tage nach dem Wechsel war trotz Niederlage «eindrücklich, für so ein Erlebnis trainiert man jeden Tag».

Wie am früheren Wohnort Herisau ist die Familie in Jekaterinburg oft zusammen, Alltag und Esskultur («bin positiv überrascht») haben sich nicht gross verändert. Zu diesem Alltag gehört Russisch lernen nun ebenso dazu wie die Fahrten mit günstigen Taxis – im Verein besitzen nur vier Profis ein eigenes Auto, die Aratores gehören nicht zu ihnen.

Bei Ural Jekaterinburg, ­dessen Heimspiele im Schnitt 20'000 Zuschauer besuchen, hat Aratore schnell Fuss gefasst. Zwar gelte es sprachliche Barrieren zu überwinden mit dem russischen Trainer Dimitri Parfenow und den Mitspielern, vorwiegend ebenfalls Russen («ihr Ziel sind die grossen Clubs aus Moskau und St.Petersburg»). Ein Übersetzer, der zugleich als einer der vier Assistenztrainer wirkt, ist jedoch stets zugegen. Eine Schwierigkeit war die kurze Anpassungszeit, da Aratore den Vertrag bis 2021 unterschrieb, als bereits drei Runden in Russland gespielt waren; es fehlte dem Offensivspieler die so wichtige, gemeinsame Vorbereitungszeit.

Tatsächlich machte es von aussen betrachtet den Anschein, der Wechsel weg von St.Gallen ins russische Nirgendwo käme überhastet, als renne der Fussballer davon. Aratore sagt: «Durch die WM hat sich alles verzögert. Wer sich in dem Geschäft aber auskennt, weiss, dass ein solcher Transfer lange geplant sein muss.» Er sagt, es habe im Sommer 2017 bereits Angebote gegeben aus der 2. Bundesliga und der Türkei, damals habe er die gute Saison nochmals bestätigen wollen. Doch als in diesem Sommer im FC St.Gallen nun alle Zeichen auf Veränderung standen, gab es nach vier Jahren bei den Ostschweizern kein Halten mehr.

Zuletzt sass Aratore bei Jekaterinburg zweimal auf der Bank, weil er angeschlagen war. Davor zeigte er Assists und gute Leistungen mit dem Mittelfeldclub, beim 2:1-Sieg gegen Krasnojarsk wurde er zum «Mann des Spiels» gewählt. In St.Gallen hatte Aratore zwei Spielzeiten lang die meisten Skorerpunkte, bestritt 93 Spiele in Folge, «das kann ich wohl nicht toppen, ich versuche aber, hier eine ähnliche Figur zu werden». Die stehenden Bälle, die Dribblings, der schnelle Abschluss, das alles will er weiter zeigen. «Noch bin ich nicht so weit, wie ich es gerne habe. Integration braucht eben Zeit, das sehe ich ja jetzt bei St.Gallen.»

Die Trainings im Vergleich zum FC St.Gallen seien ähnlich, die Profis in Russland individuell besser, der Fussball taktischer, defensiver. «Jekaterinburg selbst ist aber bekannt für attraktiven, offensiven Fussball», sagt Aratore. Der Staff der Russen ist zudem grösser, weshalb der Flieger an die Auswärtsspiele immer voll ist. Vor Heimspielen übernachtet das Team im von der Stadt 40 km entfernten Trainingscenter, das vor zehn Jahren erbaut wurde – auch, um die Spieler besser unter Kontrolle zu haben. «In der Schweiz ist es logisch, dass du vor einem Spiel nicht weggehst. In Russland war das früher nicht so, weshalb es öfters Exzesse gab.» Neu für den Basler ist ebenfalls, dass der Präsident von Ural in einer anderen, scheinbar offiziellen Funktion während des Spiels auf der Trainerbank Platz nimmt.

Bald schon wird es bitterkalt in Jekaterinburg

«Meine Nase läuft», sagt Aratore zum Schluss. Es ist kalt geworden in Jekaterinburg, Schnee hatte es schon, und nächste Woche drohen Minusgrade. Heute Abend findet in der Stadt ein KHL-Eishockey-Ligaspiel zwischen Automobilist Jekaterinburg und Metallurg Magnitogorsk statt. Jekaterinburg führt im Osten nach 21 Partien bei nur einer Niederlage mit sechs Punkten Vorsprung, die Heimspiele vor 5500 Zuschauern sind stets ausverkauft. Aratore hat über Vitamin B Karten erhalten – der Inter-Fan ist angekommen im russischen Leben.