Julien Wanders – das Supertalent mit den zwei Gesichtern

Der 23-jährige Genfer gilt als grösste Schweizer Laufhoffnung. Nun will er dies endlich auch auf der Bahn beweisen. Am Mittwochabend soll die WM-Limite über 10 000 m fallen.

Rainer Sommerhalder
Drucken
Julien Wanders posiert vor dem Leichtathletik-Meeting von Luzern für die Fotografen auf dem Bürgenstock. (Bild: Keystone/Alexandra Wey, Bürgenstock, 8. Juli 2019)

Julien Wanders posiert vor dem Leichtathletik-Meeting von Luzern für die Fotografen auf dem Bürgenstock. (Bild: Keystone/Alexandra Wey, Bürgenstock, 8. Juli 2019)

Es gibt keine Zweifel: Julien Wanders ist eine sportliche Ausnahmeerscheinung. Da wäre zum einen das unbestrittene Talent des 23-jährigen Genfers. Auf der Strasse hat der «weisse Afrikaner», der während acht Monaten im Jahr im kenianischen Hochland lebt und trainiert, bereits Wunderdinge vollbracht. Im Februar lief er in den Arabischen Emiraten einen Halbmarathon in 59:13 Minuten so schnell wie nie ein Europäer vor ihm. Um 19 Sekunden verbesserte Wanders die alte Bestmarke des vierfachen Olympiasiegers Mo Farah.

Im vergangenen Jahr stellte Wanders in Monaco über 5 km gar einen Weltrekord auf. Bis zum Meeting im holländischen Hengelo vor einem Monat lebte er mit dem Paradoxon, dass er seine auf den Strassen des Fürstentums gelaufenen 13:29 Minuten in einem an und für sich schnelleren Bahnrennen nie erreicht hat. Inzwischen konnte Julien Wanders mit dem Unterbieten der Limite für die WM in Doha diesen Sonderfall korrigieren.

Auf der Strasse schneller als auf der Bahn

Auch über 10 km hat der 23-Jährige seinem ungleich berühmteren Vorgänger Mo Farah 2018 den Europarekord entrissen und mit 27:25 eine Traumzeit aufgestellt. Als Wanders Ende Mai beim Meeting in Stockholm die WM-Limite über 10 000 m erfolglos angriff, benötigte er auf der Bahn 19 Sekunden länger als ein Jahr zuvor im Strassenlauf.

Heute Abend will Julien Wanders bei den äthiopischen WM-Ausscheidungen in Hengelo auch die WM-Limite über die 25 Runden knacken und sein Potenzial endlich auf der lange Zeit so ungeliebten Bahn ausschöpfen. Den Beweis, beim Saisonhöhepunkt in Doha wie angekündigt um die Medaillen mitreden zu können, hat Wanders trotz einer deutlichen Leistungssteigerung in den Stadionrennen noch nicht erbracht. Immer wieder verkrampfte er im entscheidenden Moment. Um die regelmässig aufkommenden Zweifel und Ängste bei Bahnrennen zu überwinden, hat er Hilfe beim Genfer Sophrologen Erwan Tréguer, der eine spezielle Entspannungstechnik mittels Atemübungen lehrt, gesucht.

Kenias Hochland als neue Heimat

Der zweite Grund, welcher Wanders zur grössten Schweizer Laufhoffnung macht, liegt in der unglaublichen Konsequenz, mit der er die Karriere vorantreibt. Betreut per Fernbeziehung von seinem Jugendtrainer Marco Jäger lebt Wanders seit 2017 im Laufmekka Iten. Dort wohnt er zusammen mit seiner kenianischen Freundin Kolly wie ein Einheimischer. Er habe die gleiche Mentalität wie die Kenianer und fühle sich in Iten inzwischen wohler als in der Schweiz.

Sein ganzer Fokus liegt beim Training. Um 5.30 Uhr ist Tagwache, sein Stundenplan sieht nicht mehr als trainieren, essen und schlafen vor. Zu rund 80 Prozent kopiere er das Training der Einheimischen, daneben betreibt der Genfer aber zusätzliche Schnelligkeits- und Krafttrainings. Der ehemalige Marathon-Europameister Viktor Röthlin sagt zu Wanders Programm ebenso bewundernd wie mahnend: «Julien reizt in jungen Jahren schon vieles aus. Ich denke da an die Trainingsqualität, sein Körpergewicht und das Höhentraining. Das birgt die Gefahr von Stagnation.» Davon will Julien Wanders nichts wissen. Er geht unbeirrt seinen Weg und sagt: «Meine Stärke ist der Kopf. Ich weiss, was ich will.»