Europameister Italien leckt nach der verpassten direkten Qualifikation für die Fussball-WM seine Wunden. Den vierfachen Weltmeister holen die Phantome der Vergangenheit wieder ein.
Der Chefkarikaturist der Mailänder Tageszeitung «Corriere della Sera», sonst meist für politische Darstellungen bekannt, hatte sich letzten Sonntag der Fussballnationalmannschaft angenommen.
Seine Zeichnung auf Seite eins mit dem Titel «WM in Gefahr» zeigte Nationaltrainer Roberto Mancini in kurzen Hosen mit besorgtem Blick den Satz sagend: «Mir bleibt als letzte Möglichkeit wohl nur noch, Mario Draghi in das Kader zu berufen.»
Ministerpräsident Draghi, einer mit internationaler Strahlkraft, welcher das Land mit viel Weitsicht durch die Pandemie führt, also auch noch als Retter der (Fussball-)Nation. Wunschdenken. Stattdessen wurde der Montagabend im kalten Belfast zu einem «Incubo», einem Albtraum, wie die «Gazzetta dello Sport» am Tag danach titelte.
Der «Corriere dello Sport» sprach gar von einem «Disastro». Die «Magie ist endgültig weg», meinte der «Corriere della Sera» und bezog sich dabei auf die «Notti magiche» des italienischen EM-Sommermärchens.
Statt eines Magiers hätte Mancinis Elf wohl eher einen richtigen Goalgetter oder, wie die Italiener sagen, einen «Bomber» gebraucht. Einen wie Luca Toni beispielsweise. Der Ex-Nationalspieler und Weltmeister von 2006 ist mit seinen 44 Jahren im Seniorenalter und analysiert die Spiele der Azzurri für die staatliche TV-Anstalt RAI. Erschreckend, wie die Italiener im Angriff harmlos blieben. In der zweiten Halbzeit brachten sie nicht einen einzigen Schuss auf das nordirische Tor.
Wo war die spielerische Leichtigkeit, welche die Azzurri zum EM-Titel getragen hatte? Insigne und Belotti Totalausfälle, Chiesa und Berardi mit viel zu wenig Einfluss. Spielmacher Jorginho, einer der Favoriten auf den diesjährigen «Ballon D’Or», ein Schatten seiner selbst. Bezeichnend, dass Innenverteidiger Leonardo Bonucci, der am Schluss mit zwei Interventionen gar eine Niederlage verhinderte, noch der Beste seines Teams war.
Mancini gelang es nicht, seinen Spielern Energie einzuhauchen, die richtige Taktik zu finden. Mit jedem aus Luzern kommunizierten Tor der Schweizer verfinsterte sich die Miene des 56-jährigen «Commissario Tecnico» mehr und mehr. Zuletzt sah Mancini wie ein kleiner Schuljunge aus, dem man das Spielzeug weggenommen hat. Den vierfachen Weltmeister holen die Phantome der Vergangenheit wieder ein. Erneut Barrage, wie vor der WM 2018. Damals scheiterte man in Hin-und Rückspiel am Betonriegel der Schweden.
Für Katar ist der Modus aber noch schwieriger. Wenn am 26. November in Zürich die Playoffs für die Spiele im März nächsten Jahres ausgelost werden, muss Italien gleich zwei Gegner bezwingen. Roberto Mancini sprach nach dem Nordirlandspiel trotzig davon, dass Italien sich «ganz sicher für die WM qualifiziere», ja, das Turnier im Golfstaat vielleicht sogar gewinne.
Die Kommentatoren im «Bel Paese» sind da weniger optimistisch. Das italienische Formtief begann bereits im September. Captain Bonucci hatte nach dem Spiel in Rom gegen die Schweiz zu Protokoll gegeben, dass die «Freude am Spiel» fehle. Es mangelt dem Europameister zudem an Durchschlagskraft und Überraschungsmomenten. Der Ballbesitz allein (am Montag fast 73 Prozent) garantiert keine Torchancen.
Der ehemalige Nationaltrainer Arrigo Sacchi hielt in seiner Analyse fest, Italien wirke «ausgepowert und überheblich». Mancini bleiben nur vier Monate bis zu den Playoffs. Dort warten potenzielle Gegner wie die Österreicher, welche man an der EM erst nach Verlängerung bezwingen konnte, Polen mit Goalgetter Lewandowski oder gar Cristiano Ronaldos Portugal.
Die Verzweiflung im Land muss gross sein, wenn die Hoffnungen plötzlich auf einem wie Lorenzo Lucca liegen sollen. Der grosse und kräftige Stürmer von Italiens U21 kickt beim Serie-B-Klub Pisa.
Um sich doch noch für Katar zu qualifizieren, bräuchte Italien wohl eher das Charisma des in den letzten Begegnungen schmerzlich vermissten Routiniers Giorgio Chiellini, die Übersicht von PSG-Spielmacher Marco Veratti und die Flügelläufe von Leonardo Spinazzola. Ansonsten wird auch die nächste WM ohne Squadra Azzurra stattfinden.