Grautöne eines Frauenlebens

KREUZLINGEN. Wo ist Heimat, wo Geborgenheit, wo die Liebe? Andrea Gersters Stück «Der Zwerg in mir» über eine Frau aus dem Balkan – hervorragend inszeniert und gespielt – hält die Balance zwischen Tragik und leiser Zuversicht.

Dieter Langhart
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Geschichte einer Kämpferin: Hans Rudolf Spühler, Astrid Keller, Goran Kovacevic und Ivana Martinovic in Andrea Gersters Stück «Der Zwerg in mir». (Bild: See-Burgtheater/Mario Gaccioli)

Geschichte einer Kämpferin: Hans Rudolf Spühler, Astrid Keller, Goran Kovacevic und Ivana Martinovic in Andrea Gersters Stück «Der Zwerg in mir». (Bild: See-Burgtheater/Mario Gaccioli)

Das Stück beginnt und endet mit diesen Sätzen zu Motiven aus Schuberts Lied «Der Zwerg»: Mein Name ist Jelka Šimic, und ich bin 34 Jahre alt. Mir ist Schlimmes geschehen, aber nicht draussen im Krieg, sondern drinnen. Und es beginnt und endet mit Friedrich Holländers Chanson «Wenn ich mir was wünschen dürfte».

Dazwischen liegt ein ganzes Leben, und dieses Leben erzählt die Freidorfer Autorin Andrea Gerster im Stück «Der Zwerg in mir». Inszeniert hat es Leopold Huber, Intendant des See-Burgtheaters, als Kreis: Wo beginnt, wo endet das Leben? Und wie und womit füllt sich das Leben?

Vom Traum zum Trauma

Den Kreis zeichnet ein Schauspieler zu Beginn des Stückes mit Kreide auf die Bühne – und versucht ihn mit der Sohle gleich wieder wegzuwischen. Die drei Spieler und der Musiker lächeln, dann wird es ernst, dann blendet das Stück von Jelkas Erfolg als Sängerin und Schauspielerin 16 Jahre zurück.

In zwei Dutzend Szenen, fast filmisch rasch geschnitten, zieht Jelkas Leben protokollartig am Zuschauer vorbei. Jelka lebt irgendwo im Balkan, ihre Mutter ist streng, unerbittlich, überfordert. Jelka ist 18 und will weg aus diesem engen Leben. Schauspielerin und Sängerin ist ihr Überlebenstraum, da beugt sich ein Mann über sie, vergewaltigt sie. Sie zeigt ihn an, wird verhört, der Mann wird freigesprochen. Was in ihr weiterwächst, nennt Jelka den Zwerg Niemand.

Raum zwischen den Dialogen

Ein schwerer Stoff? «Nichts für Ängstliche», sagt Regisseur Leopold Huber. Er unterhält sich mit der Autorin Andrea Gerster vor der Uraufführung im Theater an der Grenze vorigen Freitag. Er hat eng mit ihr zusammengearbeitet und dennoch, weil Regieanweisungen fehlten, frei inszenieren können, was die Autorin an Bildern ausgelegt und an Raum zwischen den knappen Dialogen gelassen hat.

Grau in Grau ist das Stück gehalten (Bühne und Kostüme: Klaus Hellenstein): dunkelgrau die Männer, hellgrau die Frauen, Weiss auf Schwarz die (hilfreichen) Szenentitel, die auf den Rückvorhang projiziert werden – grell dagegen die Bilder der Kamera, mit der die Spieler sich oder andere filmen, und blutrot Jelkas Schal, den sie in der ersten und der letzten Szene trägt.

Hauptrolle stark besetzt

Die Farbe verleiht dem Stück das herausragende Spiel der vier Akteure, die das Premierenpublikum zu Recht mit kräftigem Applaus bedacht hat. Herausragend besetzt die Hauptrolle: Ivana Martinovic reckt sich voller Hoffnung in ihren Liedern, krümmt und windet sich als Schwangere und Zweiflerin, geht in inneren Monologen kreativ mit ihren Sorgen um, statt das Schicksal zu beklagen, und klagt jene an, die ihr übel wollen: Vergewaltiger oder Verteidiger, Arzt oder Richterin.

Die Musik verbindet

Hans Rudolf Spühler spielt alle Männerrollen, Astrid Keller alle Frauenrollen: ganz nah und körperlich, differenzierend, auch überzeichnend – eine Bravourleistung angesichts der raschen Szenenwechsel. Vierter im Spiel ist der Musiker Goran Kovacevic. Er bleibt stumm im Hintergrund, doch sein Akkordeon tupft wunderbare Glanzlichter in die Düsternis des Stoffes.

Jelka erleidet eine Totgeburt und wird des Mordes an ihrem Kind angeklagt. Und der Zwerg kehrt zurück in ihren Körper, lässt sich nicht operieren: Er wird sie umbringen, sagt der Arzt – das haben andere auch schon versucht, entgegnet Jelka.

Nicht zu viel Pathos

Zwerg Niemand ist ein Kriegsdenkmal der besonderen Art, sagt Jelka bei ihrem Abgesang. Solche Sätze oder jene, die sie in der Psychiatrie äussert, beim Besuch der Mutter (Ich bin mir gestohlen worden, ich bin nicht mehr ich) wirken schwer und symbolträchtig. Doch der Regisseur bricht das Pathos, zeigt Jelka in einem laborartigen, beinahe surrealen Licht – und bringt uns auch zum Lachen, wenn die vier Schuberts «Ave Maria» singen: aufgereiht wie in der Kirche.