Startseite
Sport
14 Monate nach ihrem Kreuzbandriss im linken Knie tritt die Olympia-Dritte Giulia Steingruber am Wochenende wieder bei einem Wettkampf an. Hinter ihr liegt ein Jahr voller Ungewissheit, Zweifel und Ohnmacht. Und vor ihr grosse Ziele.
Am 7. Juli 2018 reisst sich Giulia Steingruber bei einem Wettkampf in Saint-Etienne das Kreuzband im linken Knie. Es folgen Monate der Ohnmacht, der Ungewissheit und Zweifel. Nun bestreitet die 25-Jährige am Wochenende mit den Schweizer Meisterschaften in Romont den ersten Wettkampf seit 14 Monaten. Ein persönlicher Rückblick und Ausblick auf «turbulente Zeiten», wie Steingruber selber sagt.
Das Adrenalin habe ihr gefehlt, auch das Gefühl des Wettkampfs «aber nicht der Druck», sagt Giulia Steingruber. Ihr grösster Gegner, ihr strengster Kritiker – das ist sie selbst, das war schon immer so. Sie habe das Turnen vermisst. Es sei ihre Leidenschaft, und so lange das so sei, mache sie weiter. Doch ungetrübt ist die Vorfreude auf die Rückkehr nicht. Sie stehe gar nicht gerne im Mittelpunkt, doch vermeiden lässt sich das nicht. «Ich mache mir viel Druck. Das ist nicht immer das schönste Gefühl. Ich habe hohe Erwartungen an mich und alle werden auf mich schauen. Das ist für mich auch ein wenig beängstigend.»
Sie war schon zuvor verletzt, doch ein ganzes Jahr fehlte sie noch nie. «Das Ziel war sehr weit weg, und ich wusste nicht, ob ich es noch einmal schaffe», gibt Steingruber zu. Sechs Wochen ging sie an Krücken und kämpfte mit dem Gefühl von Ohnmacht und Unselbstständigkeit, lebte in den Tag hinein. «Ich hatte Zeit und wusste nicht, was mit mir anfangen. Ich ging mir auf den Wecker.» Die fehlende Motivation im Sport färbte auch auf Privatleben und Schule ab, sagt Steingruber. «Wenn es im Sport nicht läuft, fehlt mir etwas. Ich war antriebslos.»
Als die Energie langsam zurückkehrte, aber der Körper noch streikte, setzte sich Steingruber auf den Boden, die Augen geschlossen, die Musik aufgedreht – und so begann sie, ihre Übungen zu visualisieren, im Kopf zu turnen, aber eben ohne Körper. Zu Beginn zog sich noch alles zusammen, das Knie schmerzte schon nur beim Gedanken an eine harte Landung. Erst vor anderthalb Wochen turnte Steingruber bei einem internen Wettkampf erstmals ein vollständiges Programm an allen vier Geräten, beim Sprung und am Boden mit der Unterstützung des Trainers. «Das war wichtig für den Kopf und mein Vertrauen.»
Giulia Steingruber ist 25 Jahre jung, doch im Turnen gehört sie damit zu den Älteren. «Das gleiche Programm wie die 16-Jährigen zu turnen, ist für mich anstrengend. Ich brauche mehr Erholung», sagt sie. Noch habe das Knie nicht die gleiche Beweglichkeit wie zuvor. Es gelte, Gedanken daran gar nicht erst zuzulassen. Sie zu verdrängen. Wie die Schmerzen generell. «Nach Wettkämpfen tut mir alles mehr weh als früher», sagt sie. Sie habe gelernt, mehr auf ihren Körper zu hören, und achte darauf, auf acht Stunden Schlaf pro Nacht zu kommen.
Giulia Steingruber leidet unter Prüfungsangst. Sobald sie die kleinste Unsicherheit verspüre, gerate sie in einen Strudel, «und dann dreht sich der Kopf nur noch». Im Frühling hatte sie die Doppelbelastung aus Schule und Sport als grenzwertig bezeichnet und reine Sportschulen als Lösung angeregt. Für sie selbst kommt das wohl zu spät. Zum Glück. Jüngst legte Steingruber ihre letzten Matura-Prüfungen ab. Ob sie reüssiert hat, ist noch offen. Sicher ist indes: «Ich werde vorerst kein Studium in Angriff nehmen und mich voll auf den Sport konzentrieren.»
Die Weltspitze um die amerikanische Dominatorin Simone Biles ist derzeit nicht ihr Massstab. Giulia Steingruber wird am Boden eine vereinfachte Übung turnen und im Sprung wohl nur den Tschussowitina zeigen. Ihr Ziel sei der Mehrkampffinal der besten Acht. Das helfe auch dem Schweizer Team, für das es in Stuttgart (4. bis 13. Oktober) auch um Olympia-Quotenplätze geht. «Ich werde sehr nervös sein», sagt Steingruber, die nach den Schweizer Meisterschaften in Romont noch einen Länderkampf gegen Holland bestreitet.
2019 ist ein Zwischenjahr. Ihr grosses Ziel sind die Olympischen Spiele im kommenden Jahr – ihre dritten nach London und Rio de Janeiro. «Tokio beschäftigt mich schon seit drei Jahren», sagt Steingruber, der in Rio de Janeiro Historisches gelang: Mit Bronze im Sprung holte sie als erste Schweizer Turnerin eine Olympia-Medaille. Vor ihrer Rückkehr spricht sie nicht von Edelmetall, sondern davon, dass sie «am Boden noch eine Rechnung offen» habe. Nach einem Sturz hatte sie in Rio de Janeiro am Borden nur den achten Rang belegt. Bilden die Olympischen Spiele 2020 den Schlusspunkt ihrer Karriere? Kaum. Sie sei zwar nicht mehr die Jüngste und schaue von Jahr zu Jahr, aber 2021 fänden die Europameisterschaften in Basel statt. Wohl mit Giulia Steingruber.