Cupfinal-Niederlage
Wieder ein Tränenmeer beim FC St.Gallen – das Gewicht des Müssens wog zu schwer

Die «Titelgeschichte» wiederholt sich. St.Gallen verliert einen weiteren Cupfinal, diesmal 1:4 gegen Lugano. Von einem Traum, der so gross war, dass er nicht platzen durfte – und vielleicht genau deshalb geplatzt ist.

Ralf Streule aus Bern 1 Kommentar
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Der Schlüsselmoment kurz vor der Pause: Matej Maglica patzt, Luganos Olivier Custodio trifft.

Der Schlüsselmoment kurz vor der Pause: Matej Maglica patzt, Luganos Olivier Custodio trifft.

Bild: Alessandro Della Valle/KEY

Der Traum ist so gross, er kann eigentlich gar nicht platzen. Finden die einen vor dem Spiel. Der Traum ist so gross, der kann sich unmöglich erfüllen. Sagen die anderen. Sicher ist: Die Luft vor dem Cupfinal vibriert rund ums Wankdorf – und in den Stunden zuvor auch in der Berner Innenstadt. Die grünweisse Welle über die Lorrainebrücke in Richtung Wankdorf scheint nicht abzuebben. Tausende sind unterwegs. Und die Aufforderung der Fans, ja der gesamten Region, ist auf einem Transparent im Wankdorf zusammengefasst: «Holet dä Pott». Und die Fan-Choreografie prophezeit hoffnungsvoll: «D Titelgschicht, die änderet sich.»

«D Titelgschicht, die änderet sich»: Eindrückliche Choreographie der St.Galler Fans.

«D Titelgschicht, die änderet sich»: Eindrückliche Choreographie der St.Galler Fans.

Bild: Gian Ehrenzeller / KEY
Die St. Galler Fans überqueren vor dem Spiel die Lorrainebrücke.

Die St. Galler Fans überqueren vor dem Spiel die Lorrainebrücke.

Bild: Alessandro Della Valle/KEY

Es kommt anders. Trotz so lautem und farbigem Anhang. Trotz Feststimmung und Zuversicht. Die Erinnerung an 1998 und die Finalniederlage gegen Lausanne, sie wird an diesem Nachmittag bei vielen halt doch wieder wach. Immerhin: Anders als damals war St.Gallen am Sonntag nicht einmal nahe an einem Sieg – vielleicht macht es das für viele Fans erträglicher.

Der Wankdorffluch? Der Cupfinalfluch?

Die wichtigste Frage, die sich vor dem Spiel stellte, ist ebenfalls beantwortet: Kann der FC St.Gallen unter diesen euphorischen Umständen wirklich «einfach spielen»? So wie es Trainer Peter Zeidler von seinen Fussballern erwartet hatte? Es gelang ihnen nur selten. Da war zwar viel Engagement im Spiel der St.Galler, viel Herz und Wille. Locker und leichtfüssig wirkte das alles aber kaum einmal, so wie bereits vor einem Jahr im Final gegen Luzern. Spätestens als die Luganesi in der zweiten Hälfte ihre Abgeklärtheit auf die Spitze trieben, Gegenstösse wie im Bilderbuch abschlossen, war es um die bemitleidenswerten St.Galler geschehen.

Nichts ist schwieriger, als Lockerheit zu erzwingen

Am Ende war es nicht die viel diskutierte Goaliefrage, die hier den Ausschlag gab. Es war viel eher das Gewicht des Müssens, das an diesem Nachmittag wohl wieder etwas zu schwer wog. Man sei schon als Cupfinalist ein Sieger, so wollte Zeidler das den Spielern beibringen. Doch nichts ist schwieriger, als Lockerheit zu erzwingen.

«Holet dä Pott» – das Transparent hängt auch noch, als die Tessiner Fans nach dem Sieg auf dem Feld feiern. Und die St.Galler mit verschränkten Armen danebenstehen. Eine Silbermedaille also. Die Titelgeschichte ändert sich nicht. «Holet dä Pott.» Das Transparent ist erst weg, als die Tessiner den Pokal stemmen und es schwarz-weisse Konfetti auf die Laptops der Journalisten regnet.

Wankdorffluch? Cupfinalfluch?

Der Wankdorffluch, der Cupfinalfluch, der «im-wichtigsten-Moment-nicht-bereit»-Fluch: Man kann es nennen, wie man es will. Die Fakten lauten: Der FC St.Gallen verpasst es ein weiteres Mal, nach 1969 einen zweiten Cuptitel zum Klub-Palmarès hinzuzufügen. Er kann eine starke Rückrunde nicht krönen. Und steht – das nur nebenbei – mit leeren Händen da in Sachen Europacup-Platz in diesem Jahr. Als es nach 70 Minuten 4:1 für die Tessiner steht, sich die St.Galler abmühen, doch noch ein Loch in der schwarzweissen Verteidigung zu finden, scheinen all diese Dinge langsam durchzusickern bei den zuvor so euphorisierten Fans. Es wird leiser hinter dem einen Tor, während es auf der anderen Seite lauter wird.

Der Matchplan der Luganesi geht perfekt auf

Warum der Traum platzte, der nicht platzen durfte? Weil genau das eintraf, was man aus St.Galler Sicht hatte befürchten müssen: Die Luganesi stellten sich auf St.Gallens Pressingspiel perfekt ein, liessen den Gegner anrennen und antworteten mit Kontern. Sie hatten jene klare Spielidee, die sie stets auszeichnet – die aber wohl besonders dann gut funktioniert, wenn beim Gegner Nervosität im Spiel ist. Und aus St.Galler Sicht das vielleicht Schmerzlichste: Die Tessiner waren bissiger.

Dies fiel schon in den Startminuten auf. Nicht die St.Galler hatten ein Startfurioso gezeigt, wie sonst so oft. Sondern die Tessiner. Lugano gewann in den ersten Minuten fast jeden Zweikampf. Und als man sich fragte, wie die Ostschweizer in dieses Spiel finden sollen, war es bereits geschehen: Zan Celar traf schon nach fünf Minuten nach einem Corner. 0:1 – der erste Stich ins Herz der Grünweissen war gesetzt. Die bange Frage blieb auch danach bestehen: Wie soll der FC St.Gallen hier ins Spiel kommen? Zu eng schien auch danach die Abwehr der Tessiner. Dass die Luganesi aber bereits jetzt in einen Verwaltungsmodus schalteten, kam den Ostschweizern entgegen.

Luganos Zan Celar, Torschütze zum 0:1, im Zweikampf mit Isaac Schmidt.

Luganos Zan Celar, Torschütze zum 0:1, im Zweikampf mit Isaac Schmidt.

Bild: Gian Ehrenzeller / KEY

St.Gallens Stürmer treten nicht in Erscheinung

Victor Ruiz und Matej Maglica machten «Copy Paste», kopierten das Lugano-Tor perfekt: Freistoss, Kopftor. Der Traum erhielt wieder Nahrung, und mehr noch: Die St.Galler blieben dran, hatten erste Nervositätsprobleme abgelegt, die Tessiner wirkten nach dem Ausgleich kurzzeitig verwundbar, wenn auch weiterhin gefährlich mit Gegenstössen. St.Gallens Stürmer aber, zuletzt oft treffsicher, traten kaum in Erscheinung. Und als Maglica kurz vor der Pause einen Ball nicht «einfach spielte», ihn nicht aus dem eigenen Strafraum beförderte, sondern ihn sich bereitlegen wollte, hakten die bissigen Luganesi mit Antreiber Sandi Lovric nach, Olivier Custodio traf.

Es war die Schlüsselszene. Denn man ahnte: Die zweite Halbzeit wird aus St.Galler Sicht ein Erdauern, ein Geduldsspiel, ein Anrennen gegen eine stabile Abwehr, die gut umschaltet. Es war dann die Tessiner Erfahrung, die aus einem 2:1 traumwandlerisch ein 4:1 machte. Das Kurzfazit der zweiten Halbzeit: Ein gewilltes aber harmloses St.Gallen muss sich einem abgeklärten, klaren und effizienten Lugano beugen.

Luganos Maren Haile-Selassie trifft zum 4:1.

Luganos Maren Haile-Selassie trifft zum 4:1.

Bild: Gian Ehrenzeller / KEY

Die Mission bleibt – der Druck wird nicht kleiner

«Einfach spielen» war zu diesem Zeitpunkt für die St.Galler längst nicht mehr möglich. Eine Spur von Lockerheit war nur in den Minuten nach dem 1:1 zu sehen gewesen. Diese Lockerheit, die man in den vergangenen Tagen – auch im gesamten Fanumfeld des Klubs – fast krampfhaft heraufbeschwört hatte. Am Erwartungsdruck zerbrochen? Zu viel gewollt? Diese Sicht der Dinge mag stimmen. Vielleicht aber auch: Schlicht und einfach keinen guten Tag erwischt. Dass es ausgerechnet wieder im Cupfinal so weit kommen musste, wird die St.Galler dennoch nicht so schnell loslassen. Zwei Partien in der Meisterschaft stehen noch an, darunter ein Heimspiel gegen Lausanne. Aber: Die Luft ist wohl draussen. Die Saison 2022/23 hat begonnen für St.Gallen.

Doch vielleicht landet das Transparent «Holet dä Pott» ja nicht im Abfall, sondern im Estrich, bis es wieder hervorgekramt werden kann. «Wir kommen wieder» – so explizit sagte es Peter Zeidler diesmal zwar nicht nach dem Spiel. Aber es wird eine Mission der Gruppe um Matthias Hüppi, Alain Sutter und Zeidler sein, es weiter zu versuchen. Der Druck, der wird nicht kleiner. Und der St.Galler Ruf, im wichtigsten Moment nicht bereit zu sein, bleibt vorerst bestehen. Mindestens für ein weiteres Jahr.

Wieder nichts: St. Gallens Sportchef Alain Sutter bespricht sich nach dem Spiel mit Peter Zeidler.

Wieder nichts: St. Gallens Sportchef Alain Sutter bespricht sich nach dem Spiel mit Peter Zeidler.

Bild: Gian Ehrenzeller/KEY
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