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Der Repräsentant der Gegentribüne-Anhänger meldet sich wieder aus dem Home-Office und schaut via Bildschirm von der Haupttribüne herab. Eigentlich wollte er eine Vorschau schreiben, dachte aber, die Partie gegen Vaduz sei bestimmt verschoben. Beim 2:0 gegen den Aufsteiger verstärkten sich die schon im Herbst beobachteten Tendenzen.
Am vergangenen Samstag hatte ich wieder einmal einen dieser Lachanfälle, die mir manchmal selbst als einsamem Menschen entfahren. Da stand im «Tagblatt» in einer Titelunterzeile tatsächlich: «Heute bestreitet St.Gallen das letzte Testspiel vor Wiederaufnahme der Meisterschaft.» An meinem Wohnort in Tübach, wo drei Zentimeter Neuschnee normalerweise wenige Stunden liegen bleiben, hatte sich eine weisse Pracht von einem halben Meter aufgebaut. Wo andernorts der Räumungsbedarf eher widerwillig zur Kenntnis genommen wird, legten fleissige Schaufler mit grosser Freude noch grössere Schneehaufen an. Und da wollen die da oben im Kybunpark Fussball spielen.
Nun war zu lesen, dass nicht im Park, aber auf dem Moos gleich nebenan gespielt werden könnte, immerhin, nur leider ohne TV-Stream. Es war erstaunlich, in welch gutem Zustand, zumindest vom Home-Office aus, sich bis am Mittwochabend der Kybunrasen präsentierte. Da darf allen ein grosses Kompliment ausgesprochen werden, den Greenkeepern ebenso wie dem schaufelnden FC-Personal.
Vielleicht unterschätze ich als Anhänger im Rentnerstand die Möglichkeiten, die heute bestehen. Bei einer weissen Menge wie diesmal wäre früher kaum gespielt worden, obwohl das Espenmoos häufiger eingeschneit war als heutzutage und der Schiedsrichter dannzumal das leicht schneebedeckte Feld meistens als bespielbar erklärt hatte. Eine so ideale grüne Fläche wie in dieser Woche herzurichten, hätte den ambitiös auf gepflegte Spielunterlage bedachten Platzwart Peter Schlepfer verständlicherweise überfordert.
Als im Winter 1976/77 der Cupviertelfinal gegen Sion angesetzt war, bei ungefähr gleicher Schneehöhe wie diesmal, wurde die Partie um eine Woche verschoben. Doch Frau Holle schüttelte unablässig weiter. Und die St.Galler erhielten vom Verband die Drohung, die Partie würde bei einer erneuten Verschiebung im Wallis stattfinden. Der Heimvorteil hatte damals noch eine grosse Bedeutung.
So setzten die St.Galler alle Hebel und Schaufeln in Bewegung, damit bei immer noch prekären Verhältnissen gespielt werden konnte. Torchancen zu kreieren, war schwierig. Es drohte nun doch ein Wiederholungsspiel beim FC Sion, als Bertram Mogg in der Verlängerung mit einem Weitschuss hoch über die Schneedecke hinweg den einzigen Treffer erzielte. Ein lohnenswerter Effort: St.Gallen erreichte über Etoile Carouge den Cupfinal am Ostermontag im Wankdorf (0:1-Niederlage gegen die Young Boys).
44 Jahre später ist nicht mehr der Winter der stärkste Verhinderer von Fussball. Corona färbt zudem auf die Qualität der Spiele ab, die nach meiner Auffassung in der zweiten Welle stark nachgelassen hat. Die Gründe dafür dürften in der Mischung aus Anpassung und aktuellem Saisonfortschritt liegen.
Die rasch folgenden Partien nagten im Herbst an den Kräften, und da sich die Meisterschaft noch in einer frühen Phase befand – auch jetzt sind wir erst vier Runden von der Saisonhälfte entfernt - wollten die wenigsten Mannschaften ein abenteuerlustiges Spiel aufziehen. Sie wollten und wollen vorsichtig ihre Position beziehen.
Im Frühjahr hingegen blieb vielen Teams gar nichts anderes übrig, als Risiken einzugehen, um die Saisonziele oben und unten in der Tabelle zu erreichen. Die wenigen Mannschaften der Super League, die mit Beginn der aktuellen Spielzeit im frühen Herbst noch etwas wagten, bekamen das besonders zu spüren: St.Gallen und den Young Boys stellten sich Abwehrmauern entgegen. Basel, das mit dem Trainerwechsel ebenfalls den Tempoexpress bestieg, erzielte hingegen die typischen Ergebnisse mit einem totalen Torverhältnis von 20:16. Dass der FC St.Gallen mit der Absicht auf ähnlich angriffige Spielweise gleichviele Punkte wie die Basler erzielte (beide 23 in 14 Spielen) entbehrt bei einer Tordifferenz von bloss 14:11 nicht der Ironie.
Zeidlers Team ist ein krasses Beispiel, wie in der Pandemie auch die taktischen Verhaltensweisen mutieren können. Während die Basler, wie mir schien, noch unbeschwert ihrer Spiellust nachgehen konnten, begegnete der Vizemeister Gegnern, deren Trainer die Spielart der St.Galler stundenlang studiert haben. Sie zogen daraus zwei hauptsächliche Massnahmen: mutig gegenpressen oder mit der ganzen Mannschaft hinten hineinstehen oder beides miteinander situativ verbinden.
Was geschah nun? Die St.Galler entschieden sich für die «Gegenrevolution». Drei ihrer besten Offensivleute der vergangenen Saison entledigt, verzichteten sie auf den pausenlosen Sturmlauf und begannen, auch gezwungen durch den Gegner, mitunter den Ball zirkulieren zu lassen. Gleichzeitig steigerte sich die Defensive und liess vor dem Erfolgsgaranten Lawrence Ati Zigi nicht mehr viel zu.
Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei eigenartige Auffassungen von Trainer Peter Zeidler. So war für ihn zumindest bis zum Spiel gegen Vaduz immer noch die Abwehrleistung ungenügend. Das andere betrifft die Anweisung, den gegnerischen Beton vor allem mit Spiel durch die Mitte aufzuweichen. Tatsächlich hätte eine grosse Fläche der Aussenlinie entlang bei der Schneeräumung ausgespart werden können. Das fiel auch dem Teleclub-Kommentator auf: «Es fehlt der Lauf über aussen», sagte er und wiederholte diese Meinung kurz nach der Pause.
Doch just danach begann St.Gallen wie einst mit Lukas Görtler, Silvan Hefti und andern das gefährliche Dreieckspiel Richtung Cornerfahne aufziehen. Noch vor dem Führungstreffer konnte auf diese Weise Basil Stillhart eine grosse Chance eröffnet werden. Die von Trainer Mario Frick gut instruierte Abwehr war nun auseinandergezogen, die Falltür im Schloss Vaduz endlich aufgerissen.
Was dem FC St.Gallen in Coronazeiten widerfährt, erleben viele Mannschaften, die ebenfalls mit Schwung die Langeweile aus den leeren Stadien vertreiben möchten. Nur wenige Beispiele: Atalanta Bergamo, der FC St.Gallen der Serie A, ist die Beständigkeit verloren gegangen, bei allerdings wesentlich höherem Torumsatz.
Das Manchester City von Pep Gardiola orientiert sich neuerdings ebenfalls sehr erfolgreich an einer starken Abwehr, erst 13 Gegentore in 18 Spielen musste sie hinnehmen. Ziemlich übel spielt Corona dem FC Liverpool mit, der stets auf Stammformation bedacht war. In den vier letzten Premier League-Partien hat Jürgen Klopps Team nur noch ein Tor erzielt. Juventus Turin in Italien, Real Madrid und Barcelona in Spanien hinken weit ihren Ansprüchen hinterher. Auch Bayern München lässt immer wieder Punkte liegen.
Wie sattelfest St.Gallen in seiner Spielweise tatsächlich geworden ist, dürfte sich am Sonntag in einer taktisch vermutlich ähnlichen Partie gegen das stärkere Lugano zeigen.