Wenn der FC St.Gallen aus seinem Alltag ausbricht und die Erfolge «unerklärlich» werden, dann sind es meistens Wunder mit Verfalldatum. Das Ende des jetzigen Höhenflugs ist indessen nicht absehbar, auch weil noch gar nicht feststeht, ob er tatsächlich in einem Wunder endet.
Auch die Niederlage im berauschenden Spitzenkampf bei den Young Boys vermochte die Euphorie nicht zu dämpfen, die immer weitere Kreise zieht und sich unter anderem darin äusserte, dass sich die Anhänger im Spiel gegen Xamax zu einem amüsanten Sprechkanon verbanden. Und das nur drei Heimspiele nach dem Match gegen den FC Thun, als sich die Blöcke als Folge pyromanischer Exzesse total auseinander gelebt hatten. Der Text war einfach: «Hopp Sangalle» hallte wechselweise vom Espen-Block und dem Rest des Stadions durch den Kybunpark. Miteinander statt Gegeneinander, und als Friedensstifter mittendrin durfte sich die einzig mögliche Instanz wähnen: die Mannschaft mit ihrem zwingenden Fussball, ebenso mitreissend wie torreich.
Es mag vielleicht eineinhalb Jahr her sein, als Marco Zwyssig in einer Gesprächsrunde des «Teleclub» gefordert hatte, der FC St.Gallen müsse sowohl erfolgreichen als auch begeisternden Fussball zeigen. Da dachte ich, der Akteur der Meistermannschaft von 2000 sei ein zünftiger Optimist. Die meisten Anhänger wären bereits mit erfolgreichem Spiel zufrieden gewesen. Wie sollte ich mich täuschen.
Denn in diesen Wochen passt alles zusammen. Da kam nicht nur Cedric Ittens fulminanter Start in die Nationalteamkarriere hinzu, da stand etwas im Schatten auch der Auftritt von Jérémy Guillemenot, der im U-21-Ausscheidungsspiel gegen Frankreich den ersten Treffer der Schweizer erzielte und den zweiten vorbereitete. Und da gab es auch die Generalversammlung, in der finanzielle Entwarnung gegeben werden konnte – dank Sparmassnahmen und Zuwendungen der Hauptaktionäre. Der Erfolg dürfte vermehrt Sponsoren anlocken. Die Zuschauer sind schon zurück: Gegen Xamax kamen 3000 mehr in den Kybunpark als beim letzten Heimspiel gegen die Neuenburger im März.
Doch Wunder sind zeitlich beschränkt, wie der FC St.Gallen in seiner langen Geschichte mehrfach erfahren musste. In der Nachkriegszeit bis heute können wir in diesem Zusammenhang folgende aussergewöhnliche Ereignisse feststellen:
Peter Zeidler ist auf dem besten Weg, in diese Ehrengalerie aufgenommen zu werden. Was seinem Team selbstredend fehlt, ist die finale Ausführung bis zum Ende der Saison und darüber hinaus. Was Verlässlichkeit verbreitet, ist die Beständigkeit der Mannschaft im klaren Plan. Sie kann in jedem Spiel die Art des Fussballs, die dem Trainer vorschwebt, abrufen. Gegen Xamax traten diese Konturen wieder besonders deutlich zum Vorschein: Immer wieder der Drang durch die Mitte.
Da mag Miro Muheim auf der linken Seite noch so lange auf ein Zuspiel warten – St.Gallen sucht viel häufiger als andere Mannschaften die Spielerkonzentration vor und im Strafraum. Was bei drei der vier Tore und vor allem beim dritten zum Tragen kam. Was an Restrisiko bleibt, ist die allgemeine Zufälligkeit in jedem Fussballspiel, der offensiv ausgerichtete Teams etwas mehr ausgesetzt sind. Xamax hätte auch in Führung gehen können.
Nicht wegen der oben erwähnten, befristeten Glanzzeiten, sondern aufgrund jüngerer Erfahrung, bei denen die St.Galler nach ansprechendem Herbstdurchgang immer wieder absackten, traut manch ein Anhänger dem Braten noch nicht so recht, auch wenn die aktuelle Begeisterung einiges verdrängt. Verbreitet ist die Befürchtung, dass viele der nun begehrten Spieler den Verein bald verlassen werden. Weil sie so jung sind, melden sich die Scouts zahlreich im Kybunpark.
Das geht heute meistens offiziell via Anmeldung vonstatten. Dass sich Spielerbeobachter mit Hut, dunkler Brille und hochgeschlagenem Mantelkragen im Stadion aufhalten, gehört wahrscheinlich der Vergangenheit an. Besonders reizvoll sind St.Gallens junge Früchtchen, weil sie günstig zu erwerben sind. Allerdings hat Sportchef Alain Sutter ein feines Händchen für verkannte Talente bewiesen – besonders nach den Abgängen von Ashimeru, Barnetta, Ben Khalifa, Koch, Kutesa, Lopar, Mosevich, Rapp, Sierro, Tafer, Wittwer, um hier einmal alle in alphabetischer Reihenfolge zu nennen. Auch im jetzigen Kader schlummern ein paar Talente, die noch nicht oder kaum in der ersten Mannschaft gespielt haben.
Was ich mich eher besorgt: Ob sich Präsident Matthias Hüppi der Vertragstreue von Alain Sutter und Peter Zeidler (beide bis 2022) sicher sein kann. Ich will das nicht an die grosse Glocke hängen. Aber wenn eine graue Maus wie der FC St.Gallen wundersam zum schillernden Pfau mutiert, dann erregt das auch auf dem Trainermarkt Aufmerksamkeit. Und wer das Geschäft nur ein bisschen kennt, kann sich vorstellen, dass solche Kapazitäten gefragt sind. Jetzt schon. Ich kenne Peter Zeidlers langfristigen Horizont nicht, vielleicht hat er auch keinen ausser jenen beim FC St.Gallen. Aber im Prinzip ist er auf Trainerebene in ähnlicher Situation, wie einige seiner Spieler: ein verkanntes Talent, das erst jetzt im Alter von 57 Jahren steil abhebt.
Gerade dieser Trainertyp ist in der Bundesliga gefragt. Aber auch möglich, dass sich Sutter und Zeidler sagen, was sich hier so fantastisch entwickelt, wollen wir weiter und so spät als möglich zu Ende führen. Vielleicht denken einige Spieler ebenso: Wir müssen gar nicht wechseln, wir machen selber aus dem FC St.Gallen den Verein, zu dem wir gerne wechseln möchten. Der beste Transfer ist kein Transfer.
Cedric Itten gehört übrigens zu den wenigen Super-League-Fussballern, die in den vergangenen Jahren nicht für Basel oder die Young Boys im Nationalteam gespielt haben. Der letzte war Shani Tarashaj, der in seiner Zeit bei den Grasshoppers im Jahr 2016 fünf Länderspiel-Einsätze für die Schweiz hatte. Heute ist er vom FC Everton an den holländischen Erstdivisionär FC Emmen ausgeliehen. Von 2012 bis 2015 spielten Nassim Ben Khalifa (GC), Josip Drmic (FCZ), Mario Gavranovic (FCZ) und Michael Lang (GC) Länderspiele zu ihrer Super-League-Zeit. Also immer FCZ oder GC. Schliesst man die vier genannten Vereine aus, ist Itten der erste Spieler seit 2012, seit Adrian Winter einen und Alain Wiss zwei Teileinsätze für Luzern von total 26 beziehungsweise 15 Minuten verbuchen konnten. Wenn man so will, ist Wiss der dritte Schweizer Internationale beim FC St.Gallen, neben Costanzo und Itten.
Die Scouts treffen sich also mit ihren Notizblöcken auf der Tribüne des Kybunparks. Bekannt ist, dass vergangene Saison der 1. FC Nürnberg ein besonderes Auge auf Silvan Hefti geworfen hat. In dieser Saison soll der FC St.Pauli häufig seine Aufwartung gemacht haben, jener Verein, bei dem der Tübacher Roger Stilz als Nachwuchschef arbeitet. Er und Zeidler haben in der Trainerausbildung zusammen hospitiert. Nürnberg und St.Pauli also – zwei Vereine aus der 2. Bundesliga. Das scheint jene Liga zu sein, in welcher sportlich die meisten der St.Galler Mannschaft reüssieren könnten. Engagements in den Topligen sind hingegen meistens mit grosser Unzufriedenheit oder Problemen verbunden. Das gilt aktuell fast für die ganze Nationalmannschaft. Nicht einmal Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri bleiben verschont. (th)