Manchmal ist ein Fussballspiel spannender als ein Krimi. Dann kommt es vor, dass sich der Gegentribüne-Kolumnist das Geschehen nicht mehr ansehen kann. Am Sonntag, als es in Sion drunter und drüber ging, war es wieder einmal so weit.
Welches ist die positivste emotionale Regung, von welcher ein Mensch ergriffen werden kann? Die Geburt eines Kindes? Der erste Zahltag? Der erste Kuss unter dem schummrigen Licht einer Strassenlaterne? Nun, die Auswahl ist riesig und das Empfinden von Mensch zu Mensch verschieden. Zudem summieren sich im Lauf eines Lebens die Momente von ekstatischem Glück. Eine Top-Ten würde sich vielleicht besser eignen. Ein erfolgreicher Lehr- oder Studienabschluss, der erste Marathon, der erste Viertausender, die erste stiebende Ski-Abfahrt frühmorgens über eine frisch verschneite Piste.
Glücksgefühle im Fussball
Sie ahnen es. Etwas Wichtiges fehlt noch: magische Momente im Fussball. Ein entscheidendes Tor in der 93. Minute. Der Augenblick, da ein Meistertitel oder Aufstieg feststeht. Überraschende Siege auf internationalem Parkett. Der FC St.Gallen hat in seiner langen Geschichte diverse Glücksgefühle produziert, wenn auch sparsam. Gestern aber war es bei mir wieder einmal so weit, was zunächst lächerlich klingen mag. Ein normales Meisterschaftsspiel in Sion stand auf dem Programm. St.Gallen hatte nicht viel zu verlieren. Eine Niederlage wäre normal gewesen. Doch dann traf Yannis Tafer bis zu zur 54. Minute gleich zweimal, nach mustergültigen Kontern zunächst über Barnetta, nach der Pause über Aratore, Toko, Ajeti und Wittwer, so dass Tafer fast auf der Torlinie nur noch einlochen musste. Es kommt selten vor, dass ein St.Galler so wunderbar freigespielt wird – und auf jener Position auch auftaucht. Endorphine strömten durch meinen Körper.
Dies auch deshalb, weil sich der FC St.Gallen in einer wichtigen Phase befindet. Die trübe Leistung gegen Lugano hat Zweifel aufkommen lassen am Fussballfrühling im Kybunpark. Dabei hatte ich an dieser Stelle schon das Ende der Krise verkündet. Für mich war Sion ein weiterer wichtiger Stein im Mosaik der Saisonentwicklung. Kann St.Gallen eine schwache Leistung wegstecken oder gerät die Mannschaft nun wieder ins alte Fahrwasser wie schon früher, als eine schöne Serie zu Ende ging – wie im Herbst 2014 mit sieben Siegen und zwei Unentschieden? im Frühjahr folgte der Abstieg von Platz drei ins "Mittelfeld", unter anderem mit einer Serie von fünf Niederlagen hintereinander.
Kritikern das Maul stopfen
Ich hörte nach dem 0:1 gegen Lugano schon wieder Stimmen wie "zwei Niederlagen, und die Mannschaft ist erneut im Schlamassel". Das galt es zu vermeiden, und der Zwei-Tore-Vorsprung in Sion eröffnete unvermutet die Chance, Pessimisten das Maul zu stopfen. Hat der "neue" FC St.Gallen die Hoffnung erfüllt? Ja und Nein. Bis zur 60. Minute konnte sie das Gleichgewicht zweier stark pressender Mannschaften einigermassen halten. Sion verteidigte, wie es seine Art ist, weiter vorne als St.Gallen, das dafür ab und zu mehr Raum hatte für Konter. St.Gallens Abwehr mutierte jedoch später zum Panikorchester, in dem einzig Lopar die Ruhe bewahrte.
Ein Sonntagsspaziergang
Nach Sions Anschlusstreffer musste aber noch eine Niederlage befürchtet werden. Dann wäre der Freudenausbruch nach Tafers Tor verfrüht gewesen, wären plötzlich die Top-Ten der schlimmeren Gefühle gefragt gewesen. So trieb es mich in der 81. Minute vom Fernsehapparat nach draussen in die freie Natur. Zuletzt wurde ich 1994 von solcher Fahnenflucht ergriffen, aber schon zur Pause. Ich schwang mich aufs Velo in der Gewissheit, dass St.Gallen trotz eines klaren Sieges in Winterthur den Abstieg nach 24 Jahren ununterbrochener NLA-Zugehörigkeit nicht mehr würde vermeiden können. Und jetzt: Bloss ein normales Meisterschaftsspiel. Auf dem nicht ganz freiwilligen Sonntagsspaziergang Richtung Tübacher Sportplatz Kellen stürmte mir ein Jogger entgegen, ein schätzungsweise 27-jähriger früherer Schulkollege meines jüngsten Sohnes. "Wie steht St.Gallen?", fragte er. "Führt nur noch 1:2." Ich erklärte ihm leicht verlegen meine Situation: "Ich habe es nicht mehr ausgehalten." Und was antwortete er? - "Ich auch nicht."
Drei Punkte von besonderem Wert
"Olé, olé, olé", tönte es aus der Fernsehstube, als ich zurückkehrte. Und so konnte ich mir entspannt in der Wiederholung die Schlussphase zu Gemüte führen. St.Gallens Abwehr stand nun wieder sicherer. 13 Möglichkeiten für Sion, 6 für St.Gallen (Halbzeit 4:3) – der Sieg war am Schluss glücklich, aber die drei Punkte von enormem Wert. Denn im Wallis waren zuvor nur Lausanne mit einem Sieg im Sommer 2016, YB mit einem Remis im September und Basel mit einem Sieg im November nicht leer ausgegangen. Siebenmal, einmal auch St.Gallen, zogen die Gegner als Verlierer von dannen.
Gegen Luzern gilt es, ein Lu-Lu-Erlebnis zu verhindern, nach der Enttäuschung gegen Lugano eine weitere gegen Luzern. Wobei es nicht unbedingt auf das Resultat ankommt, das kann zufällig sein, sondern auf das Wie. Gegen Sion war nicht alles toll, aber im Vergleich zum Spiel gegen die Tessiner war St.Gallen bereit, und es gilt, das höhere Niveau von Sion zu berücksichtigen.
Fussballer enervieren sich rasch und sind oft nicht einverstanden mit einem Schiedsrichterentscheid, selbst in eindeutigen Fällen. Aber häufig, und ich meine häufiger als früher, versöhnen sie sich auch wieder oder es entstehen Augenblicke von entspannter Atmosphäre. Da streichelte doch in der hektischen Schlussphase Sions Salatic dem St.Galler Lopar ganz rasch über die Haare - nach einer weiteren Glanztat des Goalies wohl als Anerkennung zu interpretieren. Oder da entdeckte die TV-Kamera kurz nach Spielschluss Haggui und Carlitos locker lachend im Gespräch, wobei nur für den St.Galler Heiterkeit angesagt gewesen wäre. Zu Schiedsrichter Pache ist zu bemerken, dass er über die ganze Distanz einer grosszügigen Linie folgte und nur in zwei wichtigen Szenen, schön verteilt, falsch lag: Kein Platzverweis gegen Haggui nach Notbremse, aber auch kein Penalty nach einem Foul an Ajeti. Sions Trainer Zeidler lächelte ebenfalls, aber ironisch. Er erinnerte sich natürlich daran, dass einer seiner Spieler zuletzt im Kybunpark in einer fast identischen Szene wie mit Haggui die rote Karte gesehen hatte. (th)