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FC St.Gallen
Die nicht gerade berauschende Partie im Tessin gab mir Gelegenheit, die Optik eines Fussballers einzunehmen und mich entspannt zu fragen: Bei welchem Team bekäme ich mehr mit auf meinen Karriereweg, beim FC Lugano oder beim FC St.Gallen? Die Antwort ist für mich klar, hier die Gründe.
In der vergangenen Saison hat sich beim FC St.Gallen 1879 jeder Akteur gesteigert, weil in der Teamharmonie jeder auch von seinen Mitspielern profitierte. Ob dann bei einem Wegzug jeder Abgänger sein Niveau behalten kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu beurteilen. Dies gilt aktuell für Ermedin Demirovic, Silvan Hefti und Cedric Itten. Dereck Kutesa, der vor einem Jahr zu Stade Reims in die Ligue 1 gewechselt ist, hat nach harzigem Start immerhin regelmässige Einsätze über mehrere Minuten, mal von Beginn, mal als Joker.
Sicher ist, dass in der Zeidler-Schule jeder Spieler eine vielseitige taktische Weiterbildung erhält, mit der er sich auch anderswo in ein neues System einfügen kann und die ihn auch fussballerisch verbessert. Die Vielseitigkeit ergibt sich, weil mit der mutigen Spielweise fast die ganze Palette von Situationen mit und ohne Ball beübt und praktiziert wird. Das schnelle Kurzpassspiel, der rasche Abschluss nach Kombinationen, alle Arten des Pressings, das Umschalten aus der Abwehr heraus, geschicktes Zweikampfverhalten auf engem Raum, das schwierige Verteidigen, wenn der Gegner zu einem Konter kommt.
Was er am wenigsten lernt: Hinten hineinzustehen und auf den Gegner zu warten. Hierfür braucht es aber weder Talent noch spezielle Ausbildung. Solches Verhalten kann, salopp gesagt, auch mit einem Turnverein einstudiert werden.
St.Gallens Stürmer müssen sich häufig auf der Fläche einer Telefonkabine durchsetzen. Hier ist Übung allein nicht ausreichend. Gewandtheit und enge Ballführung sind hier verlangt. Jérémy Guillemenot verfügt über diese Qualitäten. Schade, dass er zu häufig im entscheidenden Moment von Fallsucht befallen wird. Die Schiedsrichter kennen ihren Pappenheimer schon lange, haben aber in andern Situationen auch richtig erkannt, wenn Guillemenot tatsächlich gefoult worden ist.
Übrigens kann sich auch Boris Babic dank seiner Wasserverdrängung auf engem Raum behaupten.
Gegen einen so destruktiven Gegner wie Lugano sieben Torchancen herauszuspielen, herauszudrücken (der Schlussakkord mit drei Schüssen hintereinander auf das Lugano-Tor als eine Chance gezählt), war keine schlechte Leistung. Die wahre Grosstat bestand aber wiederum in der defensiven Wachsamkeit, mit welcher St. Gallen die Konterangriffe der Tessiner immer wieder erstickte. Diesbezüglich bereitete Luzern viel grössere Mühe.
Lugano zu unterstellen, dass es immer nur hinten hinein stehe und seine Fussballer somit nicht viel mehr dazulernten, wäre allerdings verfehlt. Sonst hätte das Team von Maurizio Jaccobacci nicht in 13 Partien nicht mehr verloren und in jedem dieser Spiele mindestens ein Tor erzielt. Oft geriet es sogar in Rückstand und konnte noch ausgleichen.
Insgesamt ist diese Spielweise aber doch ausser Kurs geraten, zumindest im Klubfussball, auch international. Die Nachahmer von Bayern München schiessen wie die Pilze nach dem Regen aus dem Boden. Selbst Defensivpapst José Mourinho lässt Tottenham nun munter stürmen, und die Young Boys haben ebenfalls das hohe Pressing und den Tempofussball entdeckt. Interessanterweise antwortete AS Roma im Europa League-Match mit den gleichen Mitteln, wobei sich eine alte Weisheit bestätigte: Wenn zwei Teams dasselbe tun, entstehen nicht unbedingt Torchancen en masse. Im Wankdorf neutralisierten sie sich, wobei YB das Remis verdient hätte.
Am nächsten Sonntag lässt sich spannend vergleichen, wie sich die Young Boys im Cornaredo gegen Lugano verhalten werden. Der FC St.Gallen empfängt den FC Basel, der erst drei Spiele ausgetragen hat, nach der Quarantäne aber eine Woche wird trainiert haben. Im Vorfeld am meisten interessieren dürfte die Zuschauerfrage, ob die 10000-er-Grenze noch angemessen ist. Ich würde sagen ja, wenn alle die Vorsichtsmassnahmen wie Hände waschen, Abstand halten und Maskierung beachten würden. Aber die Verbreitung von Corona ist inzwischen so hoch, dass sich das Virus vielleicht doch ins Stadion schleichen könnte.
Bei Ancillo Canepa, dem Präsidenten des FC Zürich, stapeln sich die «Kicker»-Ausgaben seit 1952. Eine beachtliche Sammlung. «Eine Illustrierte Fussball-Wochenschrift für Deutschland und die Schweiz», wie das heutige Sportmagazin einst im Untertitel genannt wurde, erschien erstmals allerdings bereits am 14. Juli 1920, also vor hundert Jahren. Das ist an dieser Stelle bemerkenswert, weil dem FC St.Gallen in dem von Walther Bensemann gegründeten und in Konstanz herausgegebenen «Der Kicker» grossen Raum eingeräumt wurde. So ist in Nummer 1 in der Rubrik «Aus der guten alten Zeit» ein zweiseitiger Text (bei total 20 Seiten) betitelt mit «St.Galler Club-Chronik» zu finden. Die gute alte Zeit war damals am 21. Dezember 1892. Da beschrieb ein Willy Lüscher in besagter Chronik das Aufeinandertreffen der Grasshoppers und des FC St.Gallen. Hier ein paar Blüten aus jenem Text:
Matchbericht Grasshopperclub gegen F.C. St.Gallen: «Einer freundlichen Einladung seitens des Grasshopperclub Folge leistend, reiste der F.C. St.Gallen, 15 Mann stark, wenn auch nicht siegesbewusst, so doch mutig, Sonntag, den 6. November, nach Zürich. Der etwas trübe und neblige Morgen mag etwas dazu beigetragen haben, dass die Leute teilweise sich sehr spät am Bahnhofe einfanden und zwei Mitglieder sogar den Armen des Schlummers nicht entweichen konnten, bis der Morgenschnellzug die Gallusstadt verlassen hatte.»
Disziplin, Humor, Gesang: «Mit sichtlicher Befriedigung sah unser rühriger Präsident auf seine von aufrichtigem Sportseifer beseelten Schutzbefohlenen, und indem das Team zusammengestellt wurde, unterliess es derselbe nicht, die Leute neuerdings zu strikter Disziplin zu ermahnen; ist es doch das erst Mal, dass der hiesige Club sich an einem solchen Match auswärts beteiligte. Der gute Humor der andern und die einigen besonders angeborene Sagenlust liess einem die langweilige Eisenbahnfahrt kürzer erscheinen.»
Der Gegner korpulent und schön gewachsen: «Sei es dem Berichterstatter, der als ‘Umpire’ (= Unparteiischer, Red.) für den F.C. St.Gallen funktionierte, gestattet, an dieser Stelle etwas näher auf den Gang und Verlauf des Spieles einzutreten. Die Zürcher, Mann für Mann korpulent und schön gewachsen, gekleidet in praktische Trikots und das Haupt mit einer pompösen Pudelmütze bedeckt, machten einem unwillkürlich den Eindruck richtiger, geübter Sportsmen, denen gegenüber die St.Galler in ihren bescheidenen Kostümen wie Dilettanten erschienen.»
0:6-Niederlage: «Obwohl sich unsere Leute alle erdenkliche Mühe gaben, trat die Überlegenheit der Zürcher bis zur Halftime merklich zutage. Wenn schon die Zurufe des Publikums an die Grasshoppers nicht viel nützten, so haben diejenigen von seiten des Captains E.J. Westermann ihren Zweck sicherlich nicht verfehlt und dürfte dies unserm Captain zur Nachahmung empfohlen werden. Nach dem deutlichen Signal zum aufhören von seiten des Referee ist es den Grasshoppers nicht zu verargen, dass sie sich zu einer Gruppe zusammentaten und in ein kräftiges Hipp hipp hurra einstimmten, da sie mit 6:0 Goals über St.Gallen einen so glänzenden Sieg errangen.»
Kickschuhe besser als gewöhnliche Schuhe: «Wie praktisch das Tragen von Footballschuhen ist, erwies sich nicht nur dadurch, dass man während dem Spielen sicher Halt hat, sondern auch, dass einem das umständliche Reinigen der gewöhnlichen Schuhe an einem öffentlichen Brunnen, zu was wir uns haben hingeben müssen, erspart bleibt, und wäre die Anschaffung von solchen Schuhen von seiten unserer Mitglieder eine gewisse praktische Neuerung.»