Kolumne
Gegentribüne: Am Ende haben Hüppi & Co nicht einmal zu viel versprochen

Am Schluss sollte es wieder einmal nicht sein. Der FC St.Gallen versäumt es, den grossen Lotteriepreis abzuholen. Leistungsmässig aber hat die Mannschaft in der ersten Saison mit Trainer Peter Zeidler gerade noch die Kurve genommen.

Fredi Kurth
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Gegentribüne-Kolumnist Fredi Kurth (Bild: Urs Jaudas)

Gegentribüne-Kolumnist Fredi Kurth (Bild: Urs Jaudas)

Ja, es war wieder einmal typisch FC St.Gallen, und wir kommen nicht darum herum, die Ereignisse aufzuzählen, in denen dieser eher traditions- als erfolgreiche Klub nach den Sternen griff und dann doch wieder hart landete. Er scheint von einem Dämon besessen zu sein, der erstmals 1998 zuschlug:

  • Im Cupfinal vergibt der zweifache Torschütze Eddy Vurens den Penalty zur 3:0-Führung, und Lausanne gewinnt noch im Penaltyschiessen.
  • 2000, nach dem Gewinn der Meisterschaft, scheidet St.Gallen in der 93. Minute nach einem Gegentor von Brügge aus dem Uefa-Cup (heute Europa-League). Der nächste Gegner wäre Barcelona gewesen.
  • St.Gallen hätte in der gleichen Saison im letzten Saisonheimspiel erneut den Titel gewinnen können, verliert aber gegen die Grasshoppers. Insgesamt war es aber eine gute Saison, in welcher Chelsea London aus der Konkurrenz geworfen wurde.
  • Einmal im Espenmoos, einmal in der AFG Arena verliert St.Gallen daheim den Cup-Halbfinal als klarer Favorit gegen Wil beziehungsweise Lausanne.
  • Im letzten Match auf dem Espenmoos, im Barrage-Heimspiel gegen Bellinzona, hätte dem FC St.Gallen ein Sieg für den Ligaerhalt genügt. Doch wieder flattern die Nerven, und die erste Saison in der nagelneuen Arena beginnt in der Challenge League.
  • Nur drei Jahre später steigt St.Gallen erneut ab, weil es in Neuenburg mit drei (!) Spielern in Überzahl kurz vor Schluss noch ein Gegentor hinnehmen muss.
  • Und wie selbstverständlich schrammt St.Gallen am Samstag glorios an den Europa-League-Plätzen vorbei und negiert schnöde den Hauptpreis von drei Millionen Franken.
Majeed Ashimeru im Zweikampf mit Becir Omeragic. (Bild: Keystone)

Majeed Ashimeru im Zweikampf mit Becir Omeragic. (Bild: Keystone)

Majeed Ashimeru trifft und St.Gallen im Delirium. Das wäre möglich gewesen, aber wann hat der FC St.Gallen je einmal eine solche Gelegenheit am Schopf gepackt? Vielleicht vor 55 Jahren, als St.Gallen fünf Minuten vor Schluss gegen Wettingen noch drei Tore erzielen musste, um überhaupt die Aufstiegsrunde zur Nationalliga B zu erreichen – und als das tatsächlich gelang, samt Aufstieg. Aber vielleicht sind wir auch nur vergesslich. Das gab es doch vor wenigen Wochen diesen magischen Moment, als Tranquillo Barnetta gegen Sion das 2:1 erzielte und das Abstiegsgespenst vertrieb.

Punktgleich mit Rang drei, viele aufregende Spiele

Selten war die Achterbahn so kurvenreich und schwindelerregend wie in dieser Saison. Auch mit dem neuen Trainer an der Seitenlinie gab es Phasen, in denen die Anhänger verzweifelten, sich fragten, ob das «System Zeidler» der Mannschaft zuträglich oder abträglich sei. Einige wandten sich schon enttäuscht wieder ab, weil ihre Erwartungen zu hoch waren – Erwartungen, die durch die Namen Matthias Hüppi und Alain Sutter geweckt wurden. Nüchtern betrachtet haben die Verantwortlichen aber nicht einmal zu viel versprochen: Der Fussball, den St.Gallen bot, war häufig aufregend, von Optimismus geprägt, und Hüppis Ankündigung von regelmässigen Plätzen unter den ersten fünf kann in Anbetracht der Punktgleichheit mit Rang drei ebenfalls als erfüllt betrachtet werden.

Den Itten-Schock überwunden

Es gab keinen Absturz wie im vergangenen Jahr mit neun Niederlagen in den letzten zehn Spielen. Der FC St.Gallen gewann im Frühjahr genau gleich viele Punkte wie im Herbst. Er hatte damals nur eine kritische Phase zu überstehen, als er in neun Spielen dreimal gewann und sechsmal verlor. Es waren just die Spiele im Anschluss an den Lugano-Match mit der schweren Verletzung von Cedric Itten. Doch St.Gallen erholte sich vom Schock. Vincent Sierro sprang in die Bresche, und Zeidlers Team fing im Frühjahr auch das Formtief des Wallisers auf.

Als einzige Mannschaft YB und Basel besiegt

St.Gallen war dann stark, wenn Fussball eher gespielt als gearbeitet wurde. Es war wohl nicht von ungefähr die einzige Mannschaft, die in der Super League sowohl die Young Boys als auch Basel besiegte. Es hatte schon im Wankdorf den Meister an den Rand einer Niederlage gebracht. Hingegen gewann St.Gallen gegen Lugano und Luzern in acht Spielen total nur einen Punkt.

Mit mehr Realismus wahrscheinlich Dritter geworden

Eine der besten Leistungen gelang im ersten Match im St. Jakob-Park vor zehn Monaten. Zeidlers System funktionierte auf Anhieb, doch die Gegner passten sich an. Sie erkannten: Wenn wir den Sturm und Drang überstehen, haben wir im Konter eine Chance. Hier sind die Gründe für St.Gallens schlechte Tordifferenz zu suchen. Aber auch Zeidler passte sich an. Angriffslust ja, hiess die Devise, aber nicht mehr blindlings. Vor allem das Abwehrverhalten veränderte sich. Das Gegenpressing weit vorne und übertriebenes Aufrücken der Abwehrreihe (Stichwort Hoch stehen) waren im Frühjahr nicht mehr so häufig zu beobachten. Stattdessen war die Mannschaft eher bereit, sich zurückzuziehen und Umschaltfussball durch Balleroberung im Mittelfeld zu praktizieren. Das lässt sich mit Zahlen belegen: Im Herbst lautete die Tordifferenz 27:34, im Frühjahr nur noch 22:24. Zehn Tore weniger kassiert; mit mehr Realismus etwas früher wäre St.Gallen mit Punktevorsprung Dritter geworden.

Zeidler kritisch auch sich selbst gegenüber

Zeidler erschien in den Interviews immer wie ein offenes Buch. Er gab Fehler zu, vor allem bezüglich der Einschätzung von Barnettas Leistungsfähigkeit. Eigenartig mutete an, dass Spieler, von denen er sich verabschieden wollte, immer besser wurden: Andreas Wittwer und Milan Vilotic. Mit dem Einsatz von Musah Nuhu und von dem auf der rechten Seite wieder aufblühenden Silvan Hefti fand er schliesslich eine Abwehr von hoher Solidität. Seinem manchmal übertriebenen Hang zum ständigen Wechsel ist aber die Entdeckung eines wahrscheinlich grossen Talentes zu verdanken: Leonidas Stergiou. Am Schluss hatte Zeidler eine Stammformation beisammen, die immer besser harmonierte, nun aber wieder auseinander fällt.

Barnetta und Kutesa

Bedarf besteht vor allem im Mittelfeld nach dem Abgang von Majeed Ashimeru. Ungewissheit besteht im Angriff bezüglich Axel Bakayoko – bleibt er? Ersetzt er zumindest positionsmässig Barnetta? Jérémy Guillemenot hat beachtliche Qualitäten angedeutet. Und Cedric Itten kehrt zurück. Nicht zu vergessen Dereck Kutesa, für mich, neben Barnetta, sogar der Mann der Rückrunde. Ein Genuss ihm zuzusehen, wie er mit seinen Sprints und Finten ganze Abwehrreihen in Panik versetzte. Er profitierte am meisten von Zeidlers taktischer Justierung. Nein, so schlecht ist St.Gallen nicht aufgestellt, auch wenn Silvan Heftis Abgang schmerzen würde.

Noch bleibt Zeit. Vor einem Jahr stand Alain Sutter noch mit leeren Händen da, ehe die Transfers purzelten. In der Verhandlungsphase erfährt man jeweils wenig, dafür schiessen die Gerüchte ins Kraut: St.Gallen wolle diesmal in angemessenem Rahmen etwas Geld der Kasse entnehmen, eher auf Klasse als Quantität wolle man diesmal schauen. Ja, schauen wir mal.

Aufgefallen

Es war eine Super League Saison des Zwiespalts. Wieder einmal war das Titelrennen früh entschieden. Aber das Drama um Abstieg und internationale Plätze hat bis zur letzten Minute fasziniert. Das spricht für die Mini-Liga mit zehn Vereinen. Wie es sich das zuschauermässig ausgewirkt hätte, müsste im Einzelnen analysiert werden. In Luzern haben die Zuschauerzahlen eher ab- als zugenommen, in Neuenburg gab es Zuwachs, in Lugano minim. Was gegen die kleine Spielklasse spricht, ist die unnötige Hektik, die sich unter anderem in vielen Trainerwechseln äusserte. Auch scheint der Klubfussball immer mehr an Terrain zu verlieren. Inzwischen ist die Schweiz in der Fünfjahreswertung auf Rang 17 abgerutscht, fünf Plätze hinter Österreich klassiert. Ohne die Koeffizienz-Punkte von Basel und Young Boys wäre die Super-League nur noch fussballerisches Entwicklungsland. Einige Exploits des FC Zürich in der Europa League können darüber nicht hinwegtäuschen, und der FC Lugano mit seinen Verkaufsabsichten macht nicht den Eindruck, international brillieren zu können. Aber da gilt es abzuwarten.

Insgesamt hätte die Super League mehr Luft nötig, 12 oder sogar 14 Mannschaften – wofür sich Matthias Hüppi unlängst aussprach – damit die Traditionsvereine besser atmen können.  Schadenfreude wegen des Abstiegs von Rekordmeister Grasshoppers nach 70 Jahren ist unangebracht. Sein Schicksal ist vielmehr typisch für die Entwicklung der Liga über Jahre hinweg. Nein, dieses GC, bei welchem die Chaoten das Kommando übernommen haben, brauchen wir nicht mehr. Es hätte nicht so weit kommen müssen. Doch dieser Einsicht scheinen nur wenige zu sein. Ideenlos weiter wursteln, das hat sich festgesetzt in den manchenorts hemdsärmlig geführten Vereinen, und das bis hinauf in die Führungsgremien von Swiss Football League. Schade.

Hans Fässler greift in einem Tagblatt-Leserbrief ein interessantes Thema auf: Die Heroisierung von erfolgreichen Sportlern via Sprachgebrauch. Er kritisiert unter anderem, dass Tranquillo Barnetta als Ikone bezeichnet wird, mit einem Begriff also, welcher primär der Darstellung von Heiligen dient. Bildhaftigkeit hat im Journalismus enorm zugenommen, weil originelle Vergleiche anscheinend beliebt sind. Darüber, was tatsächlich originell ist, lässt sich streiten. Ich mag mich erinnern, dass im Tagblatt das Wort «Erlösung» vor einigen Jahren ausschliesslich in Zusammenhang mit der Erlösung von schweren Leiden wie bei Jesus Christus verwendet werden durfte. Ein Sieg des FC St.Gallen konnte also nie eine Erlösung für Mannschaft und Anhänger sein. Es ist allerdings längst – und nicht nur im Tagblatt – üblich, im übertragenen Sinn auch Musiker, Schauspieler oder Sportstars als Ikone zu bezeichnen. Mick Jagger, Dustin Hofmann, Lionel Messi. Und so war es mit Sicherheit nicht die Absicht, dem Bistum St.Gallen nach Gallus, Otmar, Wiborada und Notker dem Stammler noch einen weiteren Heiligen beizufügen. Vielmehr war es angebracht, Tranquillo Barnetta ein wenig über die Bratwurst-Prominenz zu heben, zu einem weltlichen Heiligen zu ernennen – zumal in St.Gallen der Bezeichnung nach jeder Mensch bereits ein Heiliger ist, ein Sankt Galler eben. (th)

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