Die Langlauf-Lotterie

Am Skimarathon im Engadin variieren die Laufzeiten von Jahr zu Jahr sehr stark. Rennchef Adriano Iseppi erklärt, welche Faktoren mitspielen – und warum die fittesten Breitensportler auf schlechte Bedingungen hoffen müssen.

Ralf Streule
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Engadiner 2016: Der Gegenwind bläst, das Elitefeld wird schon früh in Gruppen auseinandergerissen. (Bild: Urs Flüeler/KEY (13. März 2016))

Engadiner 2016: Der Gegenwind bläst, das Elitefeld wird schon früh in Gruppen auseinandergerissen. (Bild: Urs Flüeler/KEY (13. März 2016))

Ralf Streule

Fragen Sie einen Engadiner-Teilnehmer nie, welche Zeit er ­anstrebt. Sie würden sich als Banause outen. Fragen Sie ihn nach dem angestrebten Rang. Denn er weiss am Abend vor dem Lauf selber noch nicht, wie viele Stunden körperlicher Arbeit ihn erwarten. Nur ein Marathonläufer, der auf Asphalt unterwegs ist, kann sich einigermassen auf eine Zielzeit einstellen – da die Bedingungen von Mal zu Mal kaum variieren. Die Unberechenbarkeit des Skilanglaufs zeigt sich nicht nur in der Breite am Engadin-Skimarathon, sondern auch im Spitzensport. An der WM in Lahti wurden die Zuschauer vor einer Woche Zeuge des schnellsten 50-km-Laufs in der Geschichte nordischer Grossanlässe. 1:46:28 Stunden brauchte der Kanadier Alex Harvey für seinen Sieg in freier Technik; er war mit einem Temposchnitt von gut 28 km/h durch die Wälder Lahtis geprescht. 2011 an der WM in Oslo brauchte der Norweger Petter Northug 22 Minuten länger.

«Bei schnellen Läufen spült es die Läufer nach S-chanf»

Dass diese Unterschiede nur marginal mit der Taktik in der Spitzengruppe zu tun haben, sondern vielmehr mit den Schnee­bedingungen, erklärte Adriano Iseppi bereits in Lahti als Co-Kommentator im Schweizer Fernsehen. «Warme Tage und kalte Nächte machen die Unterlage schnell.» Derselbe Iseppi ist Rennleiter des Engadin-Ski­marathons, der am Sonntag zum 49. Mal ausgetragen wird. Und auch dort gelten natürlich die­selben Regeln. Gefrorener Altschnee ist schnell, die Kristallstruktur von Neuschnee hingegen bremst. Wobei Iseppi beim Engadiner noch einen weiteren, sehr zentralen Faktor nennt: den Wind. Er kann im breiten Tal zuweilen stark wehen. Die langsamen Engadiner von 2006 und 2016 sind vielen Breitensportlern in Erinnerung. Beide Male bremste der Gegenwind.

2008 hingegen war eines der rasantesten Rennen. Wie sich dies auf das Teilnehmerfeld auswirkt, zeigt die Grafik: Das gesamte Feld bleibt bei schnellen Bedingungen viel näher beisammen. Iseppi erklärt: «Dann spült es fast alle Läufer locker mit der Masse ins Ziel nach S-chanf.» Fast 100 Langläufer kommen bei schnellen Rennen pro Minute ins Ziel. Bei Gegenwind wie 2016 hingegen wird – nicht wie man vielleicht annehmen würde – das Feld auseinandergezogen. Dann bilden sich beim Windschattenlaufen Einerreihen, die in einzelne Grüppchen auseinandergerissen werden. Wer von dieser Si­tuation am Ende profitiert, ist für Iseppi klar: die Ausdauerstärksten. Ist der Schnee stumpf, der Gegenwind stark, ist man eher auf seine Kraft und Ausdauer angewiesen. Viele Breitensportler, die sich weniger auf ihre Technik, aber vielmehr auf ihre Fitness verlassen können, sind im 10 000er-Feld regelmässig um viele Hundert Ränge besser klassiert als in Jahren, in denen gute Bedingungen herrschen.

Dann nämlich lautet die Regel gemäss Rennchef Iseppi umgekehrt so: «Ist das Rennen schnell, profitieren die Untrainierten, die technisch sehr gut laufen.» Sie können sich fast ohne Kraftaufwand mit grosser Geschwindigkeit im Sog der Masse mittragen lassen. Überholen wird dann für die eigentlich Fitteren schwierig. Für morgen spreche der Schnee für ein schnelles Rennen, sagt Iseppi. Sonnige Tage und kalte Nächte waren zuletzt gegeben. Der Wind ist weniger berechenbar.