England geht am Samstag um 10 Uhr als Favorit in den Rugby-WM-Final gegen Südafrika.
Grosse Partien bringen grosse Spieler hervor. Im Falle von Englands Zweite-Reihe-Stürmer Maro Itoje war zwar schon vor dem Halbfinal klar, dass er zu den besten der Welt auf seiner Position gehört. Was die
1,95 m grosse und 115 kg schwere Nummer vier Englands im Match gegen Neuseeland jedoch ablieferte, war die wohl eindrücklichste Leistung eines Spielers an dieser WM. Mit seinen krakenähnlichen Armen eroberte Itoje mehrfach den Ball, bei den Einwürfen in die Gasse schraubte er sich so hoch wie kein anderer Akteur und sicherte so den Ballbesitz seiner Mannschaft. In einer exzellenten Equipe Englands stach Itoje noch zusätzlich heraus und wurde deshalb zum Mann des Spiels gewählt.
Der 25-Jährige hat an dieser WM mit zehn Ballgewinnen die meisten aller Spieler auf dem Konto. Im Vergleich zu Südafrikas bestem Ballklauer Damian de Allende, der auf fünf kommt, sind das doppelt so viele. Alleine das zeigt die unglaubliche Qualität des Lineout-Spezialisten. Im Final nimmt Itoje darum eine Schlüsselrolle ein, weil Südafrika voll auf die physische Stärke der vordersten fünf Spieler setzt, also die direkten Gegenspieler Itojes. Gewinnt England, angeführt von Itoje, diesen physischen Abnützungskampf der Vorderreihen, ist der Weg für Südafrika zum dritten WM-Titel wohl unendlich weit.
Neben Itoje haben sich an dieser WM zwei weitere englische Spieler mit ihren Leistungen in die absolute Spitzenklasse gehievt: der 23-jährige Sam Underhill und der zwei Jahre jüngere Tom Curry. Was die beiden Muskelpakete gegen Neuseeland zeigten, war beeindruckend. Mal für Mal stoppten sie die pausenlos anlaufenden «All Blacks» – teils mit krachenden Tacklings. Die beiden sind auf bestem Weg, einen neuen Standard auf ihren Positionen Nummer sieben und acht zu setzen, vor allem, was die Defensive angeht. Underhill kommt auf die fünftmeisten Tacklings des Turniers, notabene ohne das abgesagte Gruppenspiel gegen Frankreich. Und Curry, der auch vermehrt offensive Akzente setzt, wurde am Freitag gar eine besondere Ehre zuteil. Er gehört zu den nur fünf Nominierten zum Weltrugbyspieler des Jahres 2019.
Angeführt werden die Engländer von ihrer Schaltzentrale bestehend aus Regisseur George Ford und Captain Owen Farrell. Ihre Aufgabe wird es im Final sein, die Partie mit ihren Zuspielen und Kicks so zu lenken, dass die schnellen Akteure der Hintermannschaft in gefährlichen Zonen an den Ball kommen. Denn ein Versuch gegen Südafrika könnte bereits spielentscheidend sein, lassen die «Springboks» doch kaum welche zu. In den bisherigen vier Aufeinandertreffen der beiden Nationen an einer WM gestand Südafrika den Engländern nur einen einzigen Versuch zu.
Ford und Farrell ist es jedoch zuzutrauen, auch gegen die schier unüberwindbare Defensive Südafrikas Chancen zu kreieren, denn bereits im Halbfinal gelang ihnen das gegen Neuseeland ausgezeichnet. Mit etwas mehr Präzision wären sogar mehr Versuche möglich gewesen. Englands Trainer Eddie Jones sagt:
«Wir können definitiv noch besser spielen. Ohne Zweifel. Die Spieler wissen das.»
Der 59-jährige Australier ist der Bauherr des unaufhaltsamen Aufstiegs Englands. 2015 übernahm Jones einen schlafenden Riesen, der gerade an der Heim-WM in der Gruppenphase kläglich gescheitert war. In Sachen Taktik und körperliche Verfassung verpasste Jones England in vier Jahren ein neues Gesicht.
Die Frage ist nun, ob dieses Team auch noch die letzte Hürde zum WM-Titel nimmt. Jones setzt dabei auf dieselbe Startformation wie gegen Neuseeland. Sein Defensivcoach John Mitchell weis, was auf die Equipe zukommt. «Die beiden physisch stärksten Mannschaften treffen aufeinander», spricht er die zermürbende Taktik Südafrikas an. Doch, wenn ein Trainer eine Lösung auf diese Herausforderung findet, dann Jones. Schliesslich unterstütze er 2007 Südafrika als Berater beim WM-Finalsieg – ausgerechnet gegen England.
Weit um mehr als um Rugby scheint es in diesem Final für Südafrika zu gehen. Erfolgstrainer Rassie Erasmus sagt: «Die ‹Springboks› geben Hoffnung, und wir werden noch härter kämpfen, um soviel davon wie möglich zu geben.» Das Land habe in Zeiten von politischen und finanziellen Nöten gute Neuigkeiten nötig. Das weckt Erinnerungen an den ersten WM-Titel Südafrikas 1995, als Nelson Mandela den Sieg der «Springboks» nutzte, um die Versöhnung im Land nach den Jahren der Apartheid voranzutreiben.
Erasmus hat Südafrikas Nationalteam dank der Besinnung auf die alten Tugenden bis in den WM-Final geführt. An der Hingabe der Spieler wird das Vorhaben des Trainers kaum scheitern. Fraglich is, ob die als altmodisch verschriene Taktik von Erasmus reicht, um England zu bezwingen. Andererseits war es jedoch genau diese Spielausrichtung, die den «Springboks» bislang zwei WM-Titel bescherte. Der dritte soll nun folgen – und gleichzeitig ein ganzes Land beflügeln.