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Der Thurgauer Patrik Wägeli ist Marathonläufer und Landwirt. Das eine geht nicht ohne das andere, zusammen ist es aber auch nicht leicht.
Die Küchenschränke sind voller Bilder. Patrik Wägeli überall: mit Medaillen um den Hals, im Wettkampf, beim Überqueren der Ziellinie, die Faust in der Höhe. Daneben ein Zeitungsartikel, aufgehängt von den stolzen Eltern: «Der schnellste Thurgauer Bauer.» Es ist früher Nachmittag. Im Stall füttert der Vater die Milchkühe. In der kleinen Küche im Elternhaus macht der Sohn derweil Kaffee. Dann setzt er sich auf die Eckbank.
Es war immer klar, dass Wägeli, 29-jährig, Einzelkind, den Hof dereinst übernehmen wird. Oder wie er es formuliert:
«Es gab zum Glück niemanden, der ihn mir hätte streitig machen können.»
Der Betrieb steht am Dorfeingang von Nussbaumen. 22 Milchkühe gehören dazu, ein Muni, Hochstammbäume für Mostobst, Ackerbau und ein Wohnhaus. Es gab eine Zeit, da war dies seine ganze Welt. Er war damals Anfang 20 und hatte seine Karriere als Orientierungsläufer beendet, nachdem er den Sprung ins Elitekader nicht geschafft hatte.
Er widmete sich der Landwirtschaft, machte Weiterbildungen – und arbeitete bis zu 60 Stunden pro Woche. Erzählt er von seinem Beruf, der mehr Berufung ist, glänzen seine Augen. Er hat Freude an den Maschinen und Traktoren, an der Arbeit mit und in der Natur. «Kein Tag ist wie der andere», sagt Wägeli.
Und doch war es ihm damals zu wenig. Sein Leben war ihm zu vorhersehbar, die Emotionen fehlten, die Überraschungen. «Ich dachte am Anfang nicht, dass ich nochmals in den Profisport einsteigen würde», sagt Wägeli. Und doch tat er es.
2015 lief Wägeli in Barcelona seinen ersten Marathon, wurde 13. und sagt heute: «Das war ein geniales Gefühl.» Doch erst der Sommer darauf machte aus dem Landwirt einen Spitzensportler.
Damals fand in Amsterdam die Leichtathletik-EM statt. Tadesse Abraham gewann den Halbmarathon und die Schweiz holte Team-Gold. Wägeli hat das Rennen am Fernseher mitverfolgt – und auch den Marathon an den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro. Es war jedoch nicht Abraham, der ihn beeindruckte. Es war Christian Kreienbühl, 47. Rang an der EM, 76. Rang bei Olympia, und Teilzeitangestellter im IT-Bereich. «Damals dachte ich: Wenn er als normaler Topläufer das schafft, dann ist es auch für mich möglich», sagt Wägeli.
Sein Trainer Dan Uebersax hat sich damals gefreut über die Pläne. So erzählt er es am Telefon aus dem Trainingslager in Mallorca. Er hat Wägeli bereits trainiert, als dieser in der Jugend Orientierungsläufer war. Und auch in den Jahren, in denen Wägeli nur in der Freizeit rannte, blieben sie in Kontakt.
Mittlerweile kennen sie sich seit 15 Jahren, Wägelis halbes Leben. Uebersax beschreibt ihn als bodenständig, umgänglich, ehrgeizig. Man müsse ihn selten pushen, sogar eher zurückhalten. Und er sei schon immer reifer als andere gewesen. «Ich wusste, dass seine Pläne kein Hirngespinst sind», sagt Uebersax.
Uebersax traut Wägeli viel zu. Auch Zeiten um 2:10 Stunden für den Marathon – wenn er sich ideal vorbereiten würde, wenn der Sport sein einziger Fokus im Leben wäre. «Hätte er einen anderen Beruf, wäre es wohl einfacher – gerade was die Planung betrifft», sagt Uebersax.
Er weiss, wie das ist mit dem eigenen Hof. Er hat schliesslich selbst Landwirt gelernt. Da gibt es keine fixen Arbeitszeiten, keine freien Wochenenden. Ist Arbeit da, wird sie gemacht. So kam es vor Wettkämpfen schon einmal vor, dass Wägeli am Freitag bis um 22 Uhr auf dem Traktor sass, weil das Heu eingebracht werden musste. Uebersax sagt:
«Da bin ich manchmal fast verzweifelt.»
Doch er sagt auch: «Der Hof gehört zu ihm. Die Arbeit ist sein Ausgleich. Ohne würde es nicht gehen.»
Doch auch Wägeli merkte, dass es so nicht geht, dass er Abstand braucht. Er hatte zwar nach dem Sommer 2016 reduziert, arbeitete nur noch 50 bis 60 Prozent. Und doch reichte das nicht. Oft verpasste er das Training am Abend beim LC Frauenfeld oder kam später, weil die Arbeit auf dem Hof länger dauerte. Es stresste ihn, nicht zu wissen, ob er es noch schaffen würde.
Im Frühjahr 2017 zog er schliesslich zu seinem Cousin nach Stammheim. Heute wohnt er mit seiner Freundin in Frauenfeld. Zudem passte er seinen Tagesablauf an. Am Morgen trainiert er, am Nachmittag arbeitet er auf dem Hof oder im Büro. Und vor den Wettkämpfen geht er ins Trainingslager, um sich ganz auf die Vorbereitung zu konzentrieren. Im Winter ist er in Kenia, im Sommer in St.Moritz.
Ganz frei bei der Wettkampfplanung ist er jedoch nicht. Diese hängt stark von den Jahreszeiten und der Arbeit auf dem Betrieb ab. Im April hat er Zeit für Rennen, Anfang Mai wird er gebraucht. «Die Umstellung ist schwierig und sie läuft noch immer», sagt Wägeli. Und weiter:
«Ich will, dass der Hof gut läuft und dass er wächst, gleichzeitig möchte ich weniger arbeiten. Doch der Vater kann nicht immer mehr machen.»
Vor einem Jahr startete er deshalb ein Crowdfunding. Dafür machte ein Freund ein Video. Darin sieht man Wägeli, wie er auf dem Laufband stehend die Kühe füttert, mit Freunden grilliert oder die Büroarbeit erledigt. 15'000 Franken erhoffte er sich, 18'000 kamen zusammen. Damit finanziert er seine Trainingslager – und die Aushilfen, die für ihn einspringen. Nun will er jedoch eine langfristige Lösung und sucht deshalb einen fixen Angestellten. Schliesslich geht es nun um die EM in Paris – und die Olympischen Spiele. Auch wenn Letztere im vergangenen Jahr unerwartet in die Ferne gerückt sind.
Im März 2019 wurden die Selektionskriterien verschärft. Statt 155 Teilnehmer wie in Rio dürfen nur noch 80 starten. Die Limite wurde zudem um zweieinhalb Minuten auf 2:11:30 Stunden gesenkt. Für Wägeli, dessen Bestzeit bei 2:15:22 liegt, wäre das ein Meilensprung. Trainer Uebersax sagt:
«Es war unfair, die Limite so kurzfristig anzupassen. Die Zeit reicht einfach nicht, die Vorbereitung zu ändern.»
Für Wägeli war es eine schwierige Zeit. Sein Traum schien zu entschwinden. Und doch ist er irgendwie auch froh über den späten Zeitpunkt. «Wenn es schon 2016 klar gewesen wäre, hätte ich es mir nie zugetraut, dann hätte ich mich nie auf den Weg gemacht», sagt er an diesem Nachmittag.
Olympia hat er noch nicht aufgegeben. Am 26. April nimmt er am Zürich Marathon teil. Es ist seine letzte Chance – zumindest für dieses Jahr. Im Winter hat er sich gefragt, wie sein Leben aussehen würde, wenn er aufhört. «Vollzeit arbeiten, nicht mehr so fit sein.» Und wie es wäre, wenn er weiter machen würde bis Olympia 2024. Wägeli strahlt. «Ich würde weitere vier Jahre fit bleiben, grosse Emotionen erleben, Tiefen, die mich stärken. Das hat mich gepackt, da wusste ich die Antwort.»