Pablo Brägger und seine Teamkollegen verfolgen an der Kunstturn-EM in Bern hohe Ziele. Um diese zu erreichen, müssen sie sich jedoch zurückhalten. «Zu viel steht auf dem Spiel, um ein Risiko einzugehen», sagt der St. Galler.
TURNEN. Pablo Brägger sucht das Risiko. Nicht nur am Reck zeigt er waghalsige Flugelemente, bei denen er immer wieder auf den Boden stürzt. Der Oberbürer sprang auch schon mit dem Fallschirm aus 4000 Meter in die Tiefe, Bungeejamping würde ihn ebenfalls reizen. Man kann es nicht anders sagen: Brägger ist ein furchtloser Mensch. In diesem Jahr wird er seine Stärke jedoch nur selten ausspielen können. «Zu viel steht auf dem Spiel, um ein Risiko einzugehen», sagt der St. Galler. Denn in Bern steht nicht er im Mittelpunkt, sondern die Mannschaft. Das betont der 23jährige Teamcaptain bei jeder Gelegenheit. Eine Floskel ist das jedoch nicht. Die Schweizer Kunstturner haben im vergangenen Herbst an der WM in Glasgow erreicht, was dem Einzelnen seit Jahren verwehrt blieb: die Olympiaqualifikation für Rio de Janeiro.
«Wir befinden uns momentan auf einer Erfolgswelle», sagt Brägger. Die starken Leistungen beflügeln den Konkurrenzkampf im Team und machen den Einzelnen noch stärker. Und obwohl jeder auf einen Platz in der Mannschaft hofft, sei der Zusammenhalt sehr gut. «Es macht Spass, und wir haben es oft lustig», sagt Brägger.
Diese Woche können die Schweizer Turner vielleicht bereits den nächsten Erfolg feiern. Holen sie am Samstag im Teamfinal eine EM-Medaille, wäre es die erste überhaupt mit der Mannschaft. Der Schweizerische Turnverband hält sich jedoch zurück und nennt lediglich die Top fünf als Ziel. «Die Heim-EM ist Druck genug für uns, wir müssen uns das Leben mit übertriebenen Zielen nicht noch schwerer machen», sagt der Cheftrainer Bernhard Fluck. Zudem ist die Konkurrenz stark. An Grossbritannien und Russland führt an der EM wohl kein Weg vorbei, auch die Ukraine, Deutschland und Frankreich sind in den vergangenen Monaten erstarkt. Eine Schweizer Überraschung vor Heimpublikum ist dennoch möglich. «Mit einer perfekten Leistung reicht es zur Medaille», sagt Turner Benjamin Gischard. Dafür müssen die Athleten jedoch die Balance zwischen Sicherheit und Risiko finden, denn der Modus ist tückisch.
Pro Gerät treten drei Turner an, jede Übung zählt, es gibt kein Streichresultat. «Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben», sagt Brägger. «Er hätte zu grosse Auswirkung.» In der morgigen Qualifikation und im Teamfinal am Samstag werden die Turner deshalb wohl kaum ihre schwierigsten Übungen zeigen. Niemand will den Traum der Mannschaft gefährden.
Brägger wird seinen grossen Auftritt aber höchstwahrscheinlich doch noch bekommen. Am Sonntag finden die Gerätefinals statt. Vier Teilnahmen und eine Medaille hat sich der Schweizerische Turnverband als Ziel gesetzt. Gut möglich, dass dieses gar überboten wird. Die Schweiz hat mit Brägger, Christian Baumann, Gischard, Oliver Hegi und Eddy Yusof gleich mehrere Trümpfe in der Hand.
Die grössten Medaillenchancen hat aber wohl Brägger, der mit drei Finalteilnahmen liebäugelt. Am Reck gehört er nach der Absage von Olympiasieger Epke Zonderland zu den Titelanwärtern. Im vergangenen Jahr verpasste er in der Königsdisziplin die Medaille nach einem Sturz im Final. Seither hat der Ostschweizer seine Übung weiter erschwert. Die Flugshow ist wie Brägger: waghalsig und risikoreich. Das kann nur ein Turner, der furchtlos ist.