Startseite
Sport
Das Skispringen interessiert Hans Fässler nicht. Was sich daraus essayistisch stricken lässt, hingegen sehr. Der Sklaverei-Historiker, pensionierte Gymnasiallehrer und politische Kabarettist legt in der St.Galler Kellerbühne ein Buch über Simon Ammann vor. Quasi.
Was für eine Idee, den Sportredaktor zu einer Lesung von Hans Fässler in die St.Galler Kellerbühne zu schicken! Wer Fässlers Auftritte in der Öffentlichkeit kennt, weiss: Er mag den Sport nicht. Und man ahnt: Seine Ankündigung, aus seinem neuen Buch über den Toggenburger Skispringer Simon Ammann zu lesen, kann nicht ernst gemeint sein. Der St. Galler ist pensionierter Englisch-Gymnasiallehrer, ehemaliger SP-Kantonsrat – und dafür bekannt, die Sklaverei-Geschichte aus lokaler und nationaler Sicht aufgearbeitet zu haben.
Nein, er möge den professionellen Sport nicht, die Industrie des Profifussballs verabscheue er sogar, sagt er gleich zu Beginn. Und auch die Art, wie über Sport berichtet wird, ist nicht sein Ding. Denn wenn «das ganze Land über eine Medaille jubelt, möchte ich öffentliche Erklärungen abgeben, das treffe für mich nicht zu».
Was Fässler aber interessiert, ist die Frage, «woher die kollektive Identifikation mit sportlichen Helden (selten: Heldinnen) kommt». Was ihn berührt, ist die Geschichte «eines irgendwie doch recht liebenswürdig-sympathischen jungen Mannes, der in die unbarmherzige Welt des Spitzensports und in die nicht minder unbarmherzige Werbe-, Sponsoring- und Medien-Industrie hineingerät». Fässlers Ausführungen haben einen Sog, sie faszinieren die gut 40 Zuhörerinnen und Zuhörer (was in Schutzkonzept-Zeiten in der Kellerbühne «ausverkauft» bedeutet).
Also tatsächlich. Das Buch liegt vor, Fässler hält es in den Händen: «Nicht ohne meinen Carbonschuh. Eine Toggenburger Passion.» 127 Seiten. «Nicht autorisierte Simiographie». Zwei Exemplare gibt es bisher. Ob es wirklich verlegt wird, lässt Fässler offen – den Ammann-Verlag zumindest, in dem es erscheinen soll, gibt es nicht mehr. Und Fässlers Hinweis, er wolle mit der Veröffentlichung noch mindestens bis zur Vierschanzen-Tournee warten, weil man dann allenfalls Stellen im Buch umschreiben müsse, kann auch nur ein Scherz sein. Oder?
Fässler mag es, zu provozieren, Verwirrung zu stiften, Querbezüge zu finden, Dinge aus dem Zusammenhang zu reissen und sie dann wundersam doch wieder in einen stimmigen Rahmen zu bringen. Und sich zum Beispiel darüber den Kopf zu zerbrechen, auf welchem Vokal Carbon betont ist. Oder heisst es Karbon? Ammanns Suche nach dem idealen Carbonschuh wird für Fässler zur Metapher für die Suche nach dem Lebensinhalt. Ammans Zusammenstoss mit der Kamera am Super-Zehnkampf 2005 zum Symbol für das Aufeinanderprallen «Simis» mit den Medien. Überhaupt, die Berichterstattung über «Gold-Simi» und den «Luftibus» behagt Fässler wenig.
Bertold Brechts Stilmittel des V-Effekts wird dem V-Stil der Skispringer gegenübergestellt. Auch Fässlers grosses Thema, die Sklavereigeschichte, hat Platz. Ammanns Hauptsponsor, die Helvetia-Versicherung, «wurde 1858 von einem Mann gegründet , der in Brasilien afrikanische Sklaven besass, Sklaven mietete, Sklaven eigenhändig auspeitschte und schwarze Menschen allgemein verachtete». Er will es ja nur gesagt haben, nebenbei.
Die «Toggenburger Passion» ist nach biblischem Vorbild in 14 Stationen gehalten, in denen Fässler Eckpunkte von Ammanns Karriere heranzieht - und dessen drei grosse Stürze jenen von Jesus unter dem Kreuz gegenüberstellt.
Fässler hat zu Ammans Karriere genau recherchiert. Ohne den Toggenburger persönlich zu kennen, legt er Geschichte um Geschichte vor. Um darin wichtige Fragen und Figuren zu verflechten. Der Toggenburger Reformator Huldrych Zwingli darf nicht fehlen, auch Walter Steiner und Toni Brunner kommen vor. Und natürlich der Bergbahnenstreit und die schneearmen Toggenburger Winter, also die «tristesse toggenbourgeoise». Aber auch der Wandel des Sports: «In den 1990er-Jahren begannen Sportler so zu reden wie Management-Entwickler.» Beispiele? «Ich will Lösungen vorantreiben.» Oder: « Ich versuche, das perfekte Set-up zu finden.» Oder: «Leider konnte ich die Leistung nicht abrufen.» Die Begriffe liegen, vom klugen Erzähler formuliert, schwer in der Luft. Und erhalten jenen humoristischen Anstrich, der sie eigentlich stets begleitet.
Dennoch ist Fässlers Auftritt keine fiese Abrechnung, zumindest nicht mit Ammann, dessen Biografie nur Gerüst ist für Fässlers messerscharfe Gedanken zu Sport und Leben. Sein Ton ist zwar kompromisslos, aber nicht vernichtend, eher entlarvend. Auch für den Sportjournalisten. Eine Plattitüde aus dem Sportjargon jedenfalls bekommt Fleisch am Knochen: Es gibt Wichtigeres als den Sport.
Zugegeben: Den Einzug Ammanns ins Toggenburg, 2002 nach Doppel-Olympiagold in Salt Lake City, beschreibt Fässler in biblischer Sprache und in Anlehnung an den Einzug Christi in Jerusalem so brillant, dass man diesen Text damals gerne so in der Zeitung gelesen hätte.
Kultur und Skispringen. Dass das funktioniert, haben schon die Wiener Liedermacher Christoph und Lollo vor 20 Jahren gezeigt, mit zwei Alben mit «Schispringerliedern». Nicht vorgekommen ist darin Ammann. Es ist eine Lücke, die Fässler zu schliessen weiss. Mit einem Lied, in dem er über Ammann singt: «Ist er Clown und Lausbub oder tragische Figur? Er ist so wie Boby Dylan: auf Never Ending Thur.»
Und wer weiss: Vielleicht ist ja im nächsten Jahr ein gemeinsamer Auftritt Fässlers mit den beiden Liedermachern geplant. Ein Skispringerabend, vielleicht mit der wirklichen Veröffentlichung des Buches? Am 11. September im Baradies Teufen ist die nächste Aufführung geplant. Und auch im Toggenburg würde Fässler gerne auftreten. Mit einem tête-à-tête mit Ammann vielleicht? Gut vorstellbar auf jeden Fall, dass Fässler seine Leistung auch dort wird abrufen können. Das Set-up stimmt.