Erfolgreiche Boxer werfen mit Geld um sich und leben nach ihren eigenen Regeln? Ein Besuch beim besten Schweizer Schwergewichtler zeigt, dass die Realität eine andere ist. Der Europameister kämpft nicht nur im Ring gegen Widerstände.
Es gibt Momente, da fühlt man sich furchtbar klein und zerbrechlich. Ein bisschen wie ein Kindergärtner, der versehentlich in den Turnunterricht der zwölften Klasse gestolpert ist. Ich mache diese Erfahrung im Keller des Boxklubs Basel. Dabei stehe ich nicht einmal im Ring, sondern nur daneben. Doch was sich direkt vor meiner Nase abspielt, ist ein brachiales Naturspektakel.
Arnold «The Cobra» Gjergjaj schuftet dort für die Verteidigung seines Europameister-Titels am 6. Juni 2015. Der beste Schweizer Schwergewichtsboxer ist mit 1,97 Meter und 110 Kilogramm bereits eine kolossale Erscheinung, doch sein streng geheimer skandinavischer Trainingspartner mit dem Wikingerbart und den tätowierten Armen überragt ihn nochmals um einige Zentimeter.
Es ist nur ein Sparring, aber die beiden Giganten schenken sich nichts. Sechs Runden lang decken sie sich gegenseitig mit Dampfhammer-Schlägen ein. Schweiss tropft auf den Ringboden – und wird während der kurzen Pausen eilig wieder weggewischt. Adrenalin und Anstrengung der Kontrahenten wabern als süsse Duftwolke durch den Raum.
«Absolute Weltspitze»
An der weiss getünchten Wand neben dem Ring hängt ein Bild von Wladimir Klitschko. Auch mit der ukrainischen Weltnummer 1 hat sich Arnold Gjergjaj schon im Sparring gemessen. Denn der 30-jährige Schweizer mit albanischen Wurzeln will ganz nach oben.
Oder wie es sein Trainer und Manager Angelo Gallina ausdrückt: «Wir machen hier keine Hinterhofkämpfe gegen den Reto aus Biel – wir messen uns mit der absoluten Weltspitze.» Dort den Überblick zu behalten, ist für Aussenstehende nicht ganz einfach.
Gleich 13 konkurrierende Boxverbände küren einen eigenen Profi-Weltmeister. Global wirklich anerkannt sind davon nur die «Big Four», IBF, WBO, WBA und IBO – deren Schwergewichts-Titel Klitschko alle auf sich vereint.
Europameister mit Vorbehalt
Der Europameistergürtel, welchen Arnold Gergjaj am 4. Oktober 2014 in Basel vor 2000 Zuschauern gegen den Bosnier Adnan Redzovic erobert hat, wird von der European Boxing Union (EBU) vergeben, einem der ältesten Verbände der Welt. Allerdings hält der Schweizer nicht den obersten EBU-Titel, sondern denjenigen in der Kategorie EBU-EE – er ist Europameister der Nicht-EU-Staaten.
Es ist also noch nicht der bedeutendste Gürtel, aber doch der erste eines Schweizer Schwergewichtsboxers überhaupt. Und dass Arnold Gjergjaj auf dem Weg an die globale Spitze ist, lässt sich der verbandsübergreifenden Weltrangliste BoxRec entnehmen.
Dort wird der ungeschlagene Schweizer mit 20 K.o.- und 7 Punktsiegen aus 27 Profikämpfen mittlerweile auf Position 44 geführt. Und sollte «The Cobra» am kommenden Samstag ihren EBU-EE-Titel gegen den russischen Routinier Denis «Darth Vader» Bakhtov verteidigen, so wird sie sich um weitere fünf bis zehn Plätze verbessern.
Die Kobra hat selbst Angst vor Schlangen
Aus welchem Holz ist ein Sportler geschnitzt, der seinen Gegnern reihenweise das Licht ausknipst? Angelo Gallina weiss es. Der Basler Box-Zampano und ehemalige Trainer der Frauen-Nationalmannschaft baut Gjergjaj seit sieben Jahren behutsam auf. «Man merkt Arnold das Boxen ausserhalb des Rings nicht an. Er ist witzig, verspielt, bescheiden und dazu noch ein hochanständiger Mensch.»
Das ändert sich im Kampf schlagartig: «Dort legt er den Schalter um. Man hat dann manchmal das Gefühl, er wolle seinen Gegner vernichten. Das braucht man auch für diesen Sport. Wer das nicht kann, der soll lieber Federball spielen gehen.»
Und tatsächlich: Nach Arnold Gjergjajs brachialem Sparring-Auftritt mutet die Begegnung ausserhalb des Rings schon beinahe komisch an. Der Mann, dessen Faust seine Kontrahenten regelmässig mit der Wucht von 550 Kilogramm trifft, ist in zivil ein sanftmütiger Riese.
Trotz Startschwierigkeiten angekommen
Mit ruhiger Stimme und gutmütigem Lächeln beantwortet er geduldig alle Fragen. Und das, was er sagt, könnte man kaum besser erfinden: «Ich mochte meinen Kampfnamen ‹The Cobra› am Anfang wirklich nicht, denn eigentlich habe ich ganz schön Angst vor Schlangen. Hättest du eine mitgebracht, dann wäre ich jetzt schon weit, weit weg.» Der Kampfname bleibt dennoch – weil Gjergjaj im Ring lauert und eiskalt zuschlägt, sobald sich die Gelegenheit ergibt.
Der eingebürgerte Schweizer hat seine Kindheit im Kosovo verbracht und dort auch den Jugoslawien-Krieg erlebt. Erst mit 14 Jahren siedelt er 1999 als jüngstes von sieben Geschwistern mit der Familie in den Kanton Basel-Landschaft über.
Der heute stärkste Mann des Landes erinnert sich an den schwierigen Start in der neuen Heimat: «Am Anfang habe ich fast jeden Tag geweint. Ich konnte kaum Deutsch und wusste in der Schule meistens nicht, worum es überhaupt geht. Trotzdem habe ich nach zweieinhalb Jahren eine Lehrstelle als Heizungsmonteur gefunden. Die Motivation war immer da. Heute fühle ich mich hier zuhause. Ich habe meinen Platz in der Schweiz gefunden. Das macht mich stolz.»
Plötzlich ein Vorbild
Seine Erfahrungen gibt Gjergjaj nun an die Jugendlichen von Pratteln weiter: «Wir treffen uns regelmässig. Dann höre ich mir ihre Sorgen an und motiviere sie. Ich bin eine Art grosser Bruder für sie.» Es bleibt nicht nur bei Worten.
Als der Europameister in der Zeitung von einem Jungen liest, der auf seiner Lehrstellensuche 200 Absagen kassiert hat, besorgt er ihm kurzerhand eine Schnupperlehre im Unternehmen seines Cousins. «Er hat gesagt, ich sei sein Vorbild. Da musste ich ja etwas machen», sagt Gjergjaj und lacht.
Für sein soziales Engagement wird der Boxer 2014 mit dem «Prattler Stern» ausgezeichnet. Eine Ehrung, die auch Angelo Gallina freut: «Arnold dient als Vorbild einer gelungenen Integration. Trotzdem wurde er lange nicht einmal an Sportlerehrungen eingeladen. Ich habe ihn da teilweise als meine Frau eingeschleust.»
Sieben Arbeitstage pro Woche
Die mangelnde Anerkennung des Boxsports in der Schweiz führt für Gjergjaj und Gallina auch zu finanziellen Herausforderungen. Während in anderen Ländern TV-Stationen, Wettanbieter und Mäzene Millionen in das Business pumpen, muss das Basler Duo sein Budget für die Kämpfe mit einer Mischfinanzierung aus Kleinsponsoren, Eintrittsgeldern und Selbstbeiträgen stemmen. Dabei handelt es sich nicht um Peanuts: Allein der anstehende Titelkampf gegen Bakhtov verschlingt eine sechsstellige Summe.
«Ein albanischer Name in Kombination mit Kampfsport ist eine Assoziation, die keine Sponsoren-Portemonnaies öffnet. Man ist versteift auf das Klischee des Sozialhilfeempfängers, der mit dem geleasten Auto herumfährt und halb kriminell ist. Dabei sind 90 Prozent dieser Leute knallharte und erfolgreiche Arbeiter. Aber wer Geld hat, der spendet eben lieber für die Kultur oder den Zoo. Das gibt Anerkennung und man kann die Äffchen streicheln. Das geht bei Arnold leider nicht», fasst Gallina die Sponsorenmisere zusammen.
Und so schuftet Arnold Gjergjaj auch kurz vor seiner Titelverteidigung sieben Tage die Woche. Am trainingsfreien Sonntag arbeitet er ganztags in der Spar-Filiale seines Bruders, wo er im Rahmen eines Familiensponsorings auch bei reduziertem Pensum hundert Prozent Lohn erhält.
SwissBoxing-Altersgrenze als Bremsklotz
Doch nicht nur die finanziellen Bedingungen drohen den besten Schweizer Schwergewichtsboxer auf dem Weg an die Weltspitze auszubremsen. Auch der nationale Boxverband hat dem Europameister mit seiner rigiden Altersregelung bereits mehrfach Steine in den Weg gelegt. Aus Angst vor gesundheitlichen Schädigungen werden ihm von SwissBoxing grundsätzlich keine Kämpfe gegen Kontrahenten erlaubt, welche älter als 35 Jahre sind.
Damit sind aktuell 28 Prozent der Weltranglisten-Top-50 für Arnold Gjergjaj als Gegner tabu – beispielsweise auch der 39-jährige Weltmeister Wladimir Klitschko. Zu umgehen ist die starre Regelung nur mit einer Ausnahmegenehmigung.
Bis auf einen Fall wurde sie den potentiellen Gjergjaj-Gegnern bisher aber immer verweigert. «Ohne diese absurde Regel hätten wir viel mehr Kontrahenten in Reichweite und wären schon vor drei Jahren da gewesen, wo wir heute sind. Sie hat uns viel Zeit und Geld gekostet», sagt Angelo Gallina.
Klitschko bis 42 weltspitze
Auch die im Dezember 2014 verstorbene deutsche Boxtrainer-Legende Fritz Sdunek hat die Schweizer Altersgrenze kurz vor seinem Tod bei einem Training mit Gjergjaj harsch kritisiert: «Das ist eine schwache Regelung, die ist bestimmt noch von den Urahnen übernommen.
Auf der ganzen Welt können Profis bis 50 oder älter boxen. Das sind rückständige Ansichten, die im Schweizer Boxverband herrschen.» Er wusste, wovon er spricht: Sein Schützling Vitali Klitschko hat den Schwergewichtszirkus vor seinem Abgang in die Politik bis ins Alter von 42 Jahren dominiert.
Gleicher Ansicht ist der Basler Anwalt und Sportrechtsexperte Dr. Martin Kaiser. Er hat soeben ein Rechtsgutachten zur umstrittenen Altersregelung publiziert. Seine juristische Einschätzung: «Eine generelle Limite von 35 Jahren erscheint unverhältnismässig und somit nicht rechtmässig, wenn sie nicht aus naturwissenschaftlicher Sicht begründet werden kann.
«Will Weltmeister werden»
Entscheidend für die Kampftauglichkeit eines Boxers sind rein medizinische Standpunkte. Das Alter muss dort durchaus berücksichtigt werden, kann aber nicht im Sinne einer absoluten Grenze ausschlaggebend sein.»
Arnold Gjergjaj will sich kurz vor seinem nächsten Kampf von solchen Diskussionen nicht beeinflussen lassen: «Es ist ein schwieriger Weg, aber wir müssen ihn gehen. In der Schweiz kann man alles erreichen, wenn man hart genug arbeitet. Ich will Weltmeister werden – und daran glaube ich.»