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Klub der jungen Geschichten
Linda Giger, Menznau, 3. Sek
Ich stieg in den Keller. Dort schien ein Licht aus dem Schrank, den seit Ewigkeiten niemand mehr geöffnet hatte. Ich trat vorsichtig näher an den Schrank heran, welcher in einer Ecke neben ein paar alten Möbeln stand. Der Keller war düster und zugleich auch unheimlich. Ein Schaudern lief mir den Rücken hinunter. Ich spürte einen leichten kühlen Windzug, welcher in mein von Falten gezeichnetes Gesicht blies. Mit zittriger Hand öffnete ich vorsichtig die knarzende Schranktür. Der Schrank schien eine Tür zu sein, die den Blick freigab auf einen Weg. Dieser Weg kam mir endlos vor. In mir stieg eine gewisse Unsicherheit und Panik auf, doch ich riss mich zusammen und ging langsam hinein.
Ich stand nun auf einem grauen, staubigen Feldweg. Ich wagte mich, ein paar Schritte zu gehen. Es fühlte sich auf einmal so leicht an. Zugleich bemerkte ich, wie ein Lächeln über mein Gesicht huschte. Dieses Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Ich ging immer weiter und genoss die Stille. Ich fühlte mich so frei und gelassen wie schon lange nicht mehr. Auf einmal sah ich eine zusammengekauerte Gestalt, die am Rand sass. Ich blieb neben ihr stehen und sah zu ihr hinunter. Die Kreatur, welche im Staub des Weges kauerte, schien fast körperlos. Sie erinnerte mich an eine graue Decke mit menschlichen Konturen. Ich beugte mich zu ihr und fragte: «Geht es dir gut?»
Zwei fast leblose, traurige Augen blickten müde zu mir auf. «Ich bin traurig», antwortete sie mir mit zaghafter und ängstlicher Stimme. Ich setzte mich langsam neben sie auf den Rand des staubigen Weges und sagte: «Erzähl mir doch, was dich so bedrückt.» Sie seufzte tief. «Ach, weisst du», begann sie zögernd und zugleich auch verwundert, dass sich auf einmal jemand für sie interessierte, «niemand mag mich. Es ist nun mal meine Aufgabe unter die Menschen zu gehen und für einen gewissen Zeitraum unter ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie vor mir zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich, wo es nur geht.» Ich bemerkte, wie Tränen in ihre leblosen Augen stiegen. Sie erzählte weiter: «Sie haben Dinge erfunden, mit denen sie mich vor anderen verstecken wollen. Wie: Papperlapapp, das Leben ist doch schön. Das falsche Lächeln, welches sie jedes Mal aufs Neue aufsetzen. Gleich darauf folgen die ganzen Herzschmerzen. Oder sie betäuben alles mit Alkohol und Drogen.» Das konnte ich nur bestätigen: «Ohhh ja, solche Menschen sind mir auch schon oft begegnet...»
Sie fuhr fort: «Ich will den Menschen doch nur helfen, damit ich ihre Wunden in Ruhe heilen kann. Wenn ich ihnen sehr nah bin, können sie sich selbst mit eigenen Augen sehen. Wer traurig ist, hat nämlich eine sehr dünne Haut. Die Schmerzen in ihnen brechen wieder auf wie eine Wunde, die nicht richtig verheilt ist. Der Unterschied ist jedoch, dass es noch schmerzhafter ist als zuvor. Nur wer die Traurigkeit wirklich zulässt, sowie die heruntergeschluckten und verdrängten Tränen geweint hat, kann das Herz wirklich heilen. So wie mich die Menschen jedoch jedes Mal aufs Neue behandeln, wollen sie nicht, dass ich ihnen helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grosses Lächeln über ihre tiefen Narben.»
Ich nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in meine Arme. Wie weich und sanft sie sich doch anfühlte, dachte ich und streichelte zärtlich das zitternde Bündel in meinen Armen. «Weine nur und ruh dich aus», flüsterte ich ihr liebevoll ins Ohr. «Aber..., wer bist du eigentlich?», fragte sie mich.
Plötzlich wachte ich erschrocken auf. Aus welcher persönlichen Perspektive erlebte ich diesen Traum? Mühsam zog ich mich hoch und schlurfte schleppend zum Spiegel. Wer war ich?