Zweifel an Rückhalt der Bilateralen

Bilateraler Weg oder Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative: Eine noch unveröffentlichte Umfrage rüttelt an der Gewissheit, dass sich das Stimmvolk für die bilateralen Verträge entscheiden wird, wenn es hart auf hart geht.

Roger Braun
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Sie ist die Gretchenfrage der Schweizer Europapolitik: die Frage nach den bilateralen Verträgen. Seit die Stimmbevölkerung am 9. Februar 2014 die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen hat, zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Schweiz einen Entscheid zwischen der Aufrechterhaltung der Bilateralen Verträge mit der EU und der Einführung von Kontingenten für Arbeitnehmende aus der EU treffen muss. Der Bundesrat gibt sich zwar alle Mühe, Verhandlungen nicht bereits im Vornherein als gescheitert erscheinen zu lassen. Trotzdem ist jedem klar: Die Chance, dass die EU das Personenfreizügigkeitsabkommen anpassen wird, ist klein.

Weitherum rechnet man deshalb mit einer neuerlichen Abstimmung. Ausserhalb der SVP ist man relativ zuversichtlich, dass eine solche Abstimmung zu gewinnen ist. Nach dieser Lesart war das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative nicht gegen die bilateralen Verträge gerichtet, sondern einzig gegen die hohe Zuwanderung. Bei einer direkten Gegenüberstellung würde das Resultat anders aussehen, gibt man sich überzeugt.

Unumstrittene Bilaterale?

Die Umfragen, die bisher publiziert wurden, scheinen diesen Optimismus zu stützen (siehe Grafiken). In einer Befragung des Forschungsinstituts gfs.bern im vergangenen September gaben 58 Prozent der Befragten an, dass sie sich bei einer Wahl zwischen den bilateralen Verträgen und der Masseneinwanderungs-Initiative für die Bilateralen entscheiden würden. Lediglich 30 Prozent gaben der Umsetzung der Initiative den Vorzug. Eine weitere Befragung zwei Monate später ergab einen ähnlichen Wert mit 58 Prozent für die Bilateralen und 35 Prozent für die Umsetzung der Initiative. Etwa zur gleichen Zeit ermittelte das Westschweizer Wochenmagazin «L'Hebdo» eine satte Mehrheit für die Bilateralen; mit 69 gegen 26 Prozent.

Relative Mehrheit für Kündigung

Am Montag nun wird eine weitere Meinungsumfrage publiziert – und die hat es in sich. Die Politik-Plattform Vimentis hat von Oktober bis Dezember 2014 eine gross angelegte Online-Umfrage durchgeführt, an der sich gut 20 000 Personen beteiligten. Das Resultat überrascht. Zum ersten Mal spricht sich mit 45 zu 41 Prozent eine relative Mehrheit für die Umsetzung der Initiative und für die Aufgabe der Bilateralen aus, wenn die Entscheidungsfrage so lauten würde (siehe Grafik).

Eine Detailauswertung zeigt, dass vor allem jüngere Bürger, tiefe Einkommen und eher schlecht ausgebildete Personen die Bilateralen sausen lassen würden, um Einwanderungskontingente gegenüber der EU einführen zu können. Bei den Parteien sind es wenig überraschend die SVP-Anhänger, welche am deutlichsten bereit sind, die Bilateralen zu opfern (siehe Grafik). Der gleiche Wille besteht bei den Parteiunabhängigen. Wenig überraschend stellen sich die Parteigänger von SP und Grünen am stärksten gegen die Schwächung der Zusammenarbeit mit der EU. Wähler der bürgerlichen Mitteparteien wollen den bilateralen Weg weitergehen, sind aber nicht genügend geschlossen, um die SVP-Anhänger und die Parteilosen überstimmen zu können.

Tessin weiterhin am kritischsten

Interessant ist auch ein Blick auf die Regionen (siehe Grafik). Wie bereits bei der Abstimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative ist der Widerstand gegenüber der EU im Tessin am stärksten. 61 Prozent wollen Einwanderungsbeschränkungen auf Kosten der Bilateralen. Nur 26 Prozent vertreten die gegenteilige Meinung. Im gleichen Lager befinden sich die Nordostschweiz mit Schaffhausen und Thurgau, der Aargau sowie weite Teile der Zentralschweiz. Einzig Basel Stadt sowie die Nordwestschweiz mit den Kantonen Jura und Neuenburg stellen sich unzweideutig hinter die Bilateralen. Die Ostschweiz, wozu Vimentis den Kanton St. Gallen sowie die beiden Appenzell zählt, tendiert wie der nationale Durchschnitt zur Umsetzung der Initiative.

«Bilaterale sind überschätzt»

Der St. Galler SVP-Nationalrat Lukas Reimann ist wenig überrascht über das neuste Umfrageresultat. «Diese Zahlen zeigen, dass die Bilateralen nicht so wichtig sind, wie uns der Bundesrat immer weismachen will.» Und weiter: «Das Volk realisiert zunehmend, dass die Bilateralen masslos überschätzt sind.» Reimann fühlt sich durch die Umfrage bestärkt, mit der EU hart zu verhandeln. «Wenn keine Einigung zustande kommt, müssen wir bereit sein, im Notfall die Bilateralen zu kündigen», sagt er. «Die Bilateralen haben nicht mehr denselben Stellenwert wie früher. Sie sind die ungezügelte Zuwanderung nicht wert.»

«Karren nicht an die Wand fahren»

Der Ausserrhoder FDP-Nationalrat Andrea Caroni mag angesichts dieser Umfrage nicht in Panik verfallen. «Die einzige Umfrage, die wirklich zählt, ist jene an der Urne.» Er äussert sich zuversichtlich, dass bei einer allfälligen Abstimmung eine Mehrheit der Stimmbevölkerung der Bilateralen den Vorzug geben wird. «Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir unsere Hausaufgaben machen.»

Das inländische Potenzial auf dem Arbeitsmarkt müsse besser ausgeschöpft und der europapolitische Spielraum genutzt werden, um beispielsweise den Sozialtourismus zu unterbinden. Auch müsse der Bundesrat alles tun, um eine Verhandlungslösung mit der EU zu finden. «Wenn wir so weit sind, glaube ich nicht, dass eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer den Karren an die Wand fahren wird.»