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Schweiz
Auch für die Landesregierung ist die Wiedergutmachung für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen noch nicht abgeschlossen. Sie will aber auf die Beschlüsse des Parlaments warten. Dort wird unter anderem über mehr Geld für Selbsthilfeprojekte diskutiert.
Ein GA auf Lebzeiten, ein Steuererlass für Personen in prekärer Lage, ein Hilfsfonds zur Deckung von Gesundheitskosten – diese und weitere Empfehlungen hat eine Expertenkommission Anfang September dem Bundesrat vorgelegt. Zugutekommen sollen die Leistungen jenen, die in der Schweiz bis 1981 in geschlossene Anstalten gesteckt wurden. Dies ohne Gerichtsurteil und ohne, dass sie eine Straftat begangen hatten.
Am Mittwoch hat der Bundesrat Stellung genommen. Er teilt die Ansicht der Expertenkommission, dass der Prozess der Wiedergutmachung und Aufarbeitung mit der Auszahlung eines Solidaritätsbeitrags in der Höhe von 25'000 Franken pro Person nicht abgeschlossen ist.
Der Schwerpunkt müsse nun auf einer stärkeren finanziellen Unterstützung von Selbsthilfeprojekten liegen, hält die Landesregierung fest. Zudem sollen die Forschungsergebnisse der Expertenkommission verbreitet werden. Auf die anderen Empfehlungen geht der Bundesrat nicht ein.
Gemäss Angaben des Bundesamts für Justiz werden Selbsthilfeprojekte derzeit mit 150'000 Franken pro Jahr unterstützt. Geld bekommt unter anderem ein Café, das vorwiegend von Betroffenen geführt wird. Die Finanzkommission des Ständerats schlägt mit Blick auf die Budgetberatung in der Dezembersession eine Erhöhung vor: Im kommenden Jahr sollen zwei Millionen Franken an die Betroffenen und an die Hilfsprojekte fliessen.
Profitieren könnte ein Projekt, das am Donnerstag von Pro Senectute und Guido Fluri lanciert wird. Fluri ist der Urheber der Wiedergutmachungs-Initiative, die den Anstoss für den Solidaritätsbeitrag gab. Im Fokus des neuen Projekts stehen jene Betroffenen, die alt und gebrechlich sind.
Gemäss dem Expertenbericht erhalten viele Opfer eine unzureichende AHV-Rente, weil durch die Zwangsmassnahmen Beitragslücken entstanden sind. In vielen Fällen hätten die Zwangsmassnahmen zudem körperliche und psychische Störungen verursacht.
Von der Finanzhilfe profitieren könnte zudem das von der Expertenkommission vorgeschlagene «Haus der anderen Schweiz». Das Haus soll unter anderem den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen dabei helfen, sich zu organisieren.
Der Kommissionspräsident und ehemalige Zürcher SP-Regierungsrat Markus Notter glaubt nicht, dass mit der Stellungnahme des Bundesrates das letzte Wort gesprochen ist:
Im Parlament ist derzeit einiges in Bewegung.
So ist absehbar, dass die Betroffenen weiterhin Gesuche um einen Solidaritätsbeitrag einreichen können. Bis zum Ende der gesetzlichen Frist Ende März 2018 gingen beim Bundesamt für Justiz rund 9000 Gesuche ein. Auf verspätete Gesuche tritt der Bund seither nur noch in absoluten Ausnahmefällen ein. Die Rechtskommissionen der beiden Räte haben sich inzwischen fast einstimmig für eine Verlängerung der Frist ausgesprochen.
Der Bundesrat lehnte die Idee bisher ab. Er will allfällige Beschlüsse des Parlaments aber «rasch umsetzen», wie er am Mittwoch festhielt. Ebenfalls aufgegleist ist eine Gesetzesänderung, mit der Kürzungen von Ergänzungsleistungen aufgrund des Solidaritätsbeitrags ausgeschlossen würden. In Einzelfällen ist das heute möglich.