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Schweiz
Die erste Schulstunde ist für viele Jugendliche eine Qual. Lehrer und Politiker fordern einen späteren Schulbeginn – weil das mögliche Ende der Zeitumstellung alles verschlimmern würde.
Für die einen ist es Alltag, für die anderen reine Qual: Viele Sekundarschüler und Gymnasiasten mogeln sich jeden Tag durch die erste Schulstunde. Sie haben die Augen zwar geöffnet, doch aufnehmen können sie nichts. Die Jugendlichen hängen schläfrig bis komatös in ihren Stühlen. Statt etwas zu lernen, bauen sie über die Woche ein Schlafdefizit auf. Es ist ein Leben im permanenten Jetlag.
In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Studien belegt, dass Kinder erfolgreicher lernen und ausgeglichener sind, wenn die Schule später beginnt. Zudem greifen Jugendliche weniger oft zu Nikotin, Koffein und Energydrinks. Trotzdem scheint der Unterrichtsbeginn in Stein gemeisselt. Schweizer Schüler müssen so früh ins Klassenzimmer wie kaum anderswo in Europa. Spätestens um 8 Uhr beginnt der Unterricht, manchmal noch früher. Länder wie England, Schweden, aber auch Japan berücksichtigen die Ergebnisse der Schlafforschung stärker. Dort beginnt die erste Lektion um 9 Uhr.
Nun droht Schweizer Jugendlichen allerdings weiterer Schlafentzug. Die EU will die Zeitumstellung abschaffen. Im Frühling hiesse es dann: ade Winterzeit, hallo ewige Sommerzeit. Sie bringt zwar mehr Licht am Abend – aber auch lange, dunkle Morgen. Wer früh aus dem Haus muss, sieht erst nach zwei, drei Stunden die ersten Sonnenstrahlen.
Lehrerpräsident Beat Zemp hat am Gymnasium jahrzehntelang beobachtet, wie schwer sich viele Jugendliche in der ersten Stunde tun. Gerade wenn die Lektion um 7.30 Uhr beginnt, seien Gymnasiasten oft nicht aufnahmebereit. «Wenn die ewige Sommerzeit kommt, sollte der Unterricht später beginnen», sagt Zemp. Das würde den Lernfähigkeiten vieler Jugendlicher entgegenkommen. Auch Matthias Aebischer, Nationalrat (SP/BE) und Vater dreier Töchter, ist für eine Verschiebung nach hinten. Zwar sei die Schule keine Wohlfühloase. Falls die Zeitumstellung allerdings abgeschafft werde, müsse man reagieren. «Am besten wäre ein Sommer- und ein Winterstundenplan», sagt er. Ansonsten würde es in der dunklen Jahreszeit erst kurz vor der grossen Pause hell.
Die Forderungen sind kein Zufall. Denn einfache Rezepte, wie Jugendliche früher ins Bett zu schicken, funktionieren nur bedingt. Taktgeber der inneren Uhr ist das Sonnenlicht, weswegen sich der Mensch auch bei einer Reise über mehrere Zeitzonen relativ schnell umstellen kann. Wer Sonnenlicht sieht, wird schneller wach. Längere, dunkle Morgen machen hingegen schläfrig. Einen starken Einfluss hat zudem der Chronotyp jedes Menschen. Dabei gibt es Eulen und Lerchen. Kinder wollen meist früh aufstehen, sie gehören zu den Lerchen. Kaum in der Pubertät, verschiebt sich der Rhythmus allerdings in den meisten Fällen nach hinten: Jugendliche sind morgens oft müde und abends wach (Eulen). Ursache ist das Wachhormon Serotonin, das Jugendliche stärker am Abend ausschütten. Die Folge: Auch wer früh ins Bett geht, kann nicht schlafen.
Dass die Schlafforschung noch keinen Einzug ins Klassenzimmer gehalten hat, liegt allerdings nicht nur an den Schulen. Erwerbstätige Eltern möchten ihre Kinder vor der Arbeit abgeben. Wenn der Unterricht erst um 9 Uhr beginnt, wird das schwierig. Und auch viele Jugendliche selbst sind dagegen, da der Schultag dann bis in den Abend dauern würde. Sie fürchten, dass Freizeitaktivitäten wie Sport oder Musik künftig zu kurz kämen.
Die Umstellung auf die ewige Sommerzeit ist noch nicht definitiv, aber schon jetzt wird die Schweiz zunehmend zum Sonderfall. Deutschland hat zu Jahresbeginn auf die Erkenntnisse aus der Schlafforschung reagiert. In einzelnen Bundesländern wie Niedersachsen müssen Jugendliche neu erst um 9 Uhr zur Schule. Ob die Schweiz nachzieht, hängt auch an der Entscheidung der EU.
Die Abschaffung der Zeitumstellung lässt vorerst auf sich warten. Der Grund: Die EU-Mitgliedstaaten schaffen es nicht, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Manche wie Finnland wollen die Abschaffung unbedingt, manche wie Griechenland wollen daran festhalten. Und dann stellt sich die Frage: Ewige Sommerzeit oder ewige Winterzeit? «Die EU-Kommission rührt das Dossier nicht an», beklagt sich ein EU-Diplomat. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wisse, dass man sich hier leicht die Finger verbrennen könne. Die Zeit ist immerhin klare Nationalstaaten-Kompetenz. Für ein optimales Funktionieren des Binnenmarktes wäre es gut, wenn zwischen Warschau und Madrid wie heute dieselbe Zeitzone herrscht. Dass es mit einer Einigung bis zur EU-Wahl im Frühling klappen wird, gilt als ausgeschlossen. Ein Kompromiss könnte so aussehen: Die EU-Staaten beschliessen, die Zeitumstellung bis in drei Jahren abzuschaffen. In der Zwischenzeit überlegt man sich, wie.
Und was würde die Schweiz tun? Mit dieser Frage beschäftigt sich Bundesbern erst hinter den dicken Bundeshausmauern. «Wir haben abgeklärt, welche Schritte wir je nach EU-Entscheid einleiten müssten», sagt Jürg Niederhauser vom Eidgenössischen Institut für Meteorologie. Die Verwaltung hat eine Zeitblende erstellt, an welche sich der Bundesrat richtet, sobald klar ist, in welche Richtung die EU gehen will. «Die Schweiz wird sich an den Nachbarländern orientieren», sagt Niederhauser. Sollte die EU die Zeitumstellung abschaffen, wäre es also wahrscheinlich, dass die Schweiz nachzieht. Die wohl direkt an die Nachbarstaaten gekoppelte Frage wäre dann, ob man sich für die ewige Sommer- oder Winterzeit entscheidet. Da die EU-Staaten bei der Zeitzonenwahl frei sind, wären beide Szenarien möglich. Zurück zur Normalzeit (Winterzeit) zöge einen einfachen politischen Prozess nach sich. Hierzu müsste der Bund bloss die Sommerzeitverordnung aufheben. Für die ewige Sommerzeit bräuchte es eine Gesetzesänderung, da aktuell die mitteleuropäische Zeit als Normalzeit (Winterzeit) im Gesetz verankert ist. Dass die Schweiz keine Zeitinsel sein will, betonte der Bundesrat in jüngster Vergangenheit immer wieder. Seit Jahren versucht nämlich die SVP-Nationalrätin Yvette Estermann mit Vorstössen, ein Ende der halbjährlichen Zeitverschiebung zu erwirken. Die Luzernerin blieb aber stets eine Einzelkämpferin und wäre es wohl auch mit ihrer noch offenen Motion – «Schluss mit der Zeitumstellung!» – gewesen. Ihr ewiger Wunsch könnte sich nun dank Brüssel doch noch erfüllen. (rhe/yas)