Jede Freitagnacht begleiten sogenannte Wu-Shi-Krieger Berner Frauen nach Hause, um sie zu beschützen. Linke Politiker kritisieren, dass solche Initiativen das Sicherheitsmonopol der Polizei in Frage stellten und Ängste schürten.
bern. Seit über einer Stunde steht sich Mike auf dem Berner Bahnhofplatz die Füsse in den Bauch. Er hat klamme Finger, denn es ist elf Uhr in einer kalten Winternacht. Doch das darf einen Wu-Shi-Krieger nicht kümmern – und als solcher bezeichnet sich Mike. Sein Ziel: Frauen, die sich fürchten, alleine zu ihrem Auto oder zu ihrer Wohnung zu gehen, zu begleiten und wenn nötig zu verteidigen.
Bisher sind die Frauen an den beiden Wu-Shi einfach vorbeigelaufen. Gestarrt oder gelacht haben zwar die meisten, denn mit den sackartigen schwarzen Hosen und dem langen Stock in der Hand sehen die beiden Männer ungewöhnlich aus. In dieser Nacht aber kommt eine junge Frau auf sie zu und fragt mit einem charmanten Lächeln: «Was muss man tun, um Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen?» «Nichts, nur sagen wohin.» «Zum Eigerplatz.» Und los geht's. Die junge Frau hat eine Handtasche geschultert, Mike trägt seinen Stock in der Hand. Sie ist 27jährig, kommt von ihrer Arbeit in der Jugendpsychiatrie und findet die Sicherheits-Eskorte «eine tolle Sache». In der Zeitung hat sie vom Angebot gelesen, und ein Bekannter von ihr trainiert in der Tai-Chi-Schule «Harmonischer Drachen» in Bern, welche die Eskorte anbietet.
Gründer und Leiter dieser Tai-Chi-Schule ist John Lash, ein 60jähriger gebürtiger Texaner. Im Taoismus, der philosophischen Basis der fernöstlichen Kampfkunst Tai-Chi, seien Frauen heilig und würden als Göttinnen verehrt. Als diesen Sommer eine Frau vor der Tai-Chi-Schule angegriffen wurde, sagte sich Lash: Das darf nicht mehr passieren. Er bot Selbstverteidigungskurse für Frauen an – und andere für Männer. Wer von diesen Männern «sein Leben geben würde», um eine Frau zu verteidigen, sei ein Wu-Shi-Krieger, sagt Lash pathetisch. Bisher haben sich sieben Tai-Chi-Kämpfer bereit erklärt, jeweils am Freitagabend von zehn Uhr bis ein Uhr morgens bei der Sicherheits-Eskorte mitzumachen. Unentgeltlich. Lash hofft, dass ihr Beispiel andere Männer zu mehr Zivilcourage anregt, so dass sie das nächste Mal auch zu Hilfe eilen, wenn eine Frau angegriffen wird.
Seit Ende November bieten die Wu-Shi in Bern ihre Dienste an – an diesem Freitagabend haben erst zwei Frauen davon Gebrauch gemacht. Die anderen brauchen oder wollen die Begleitung nicht oder kennen das Angebot nicht. Auf Flugblättern erklären die Wu- Shi deshalb ihr Angebot. Eine 53jährige Passantin findet das «super» – auch wenn sie selber keine Angst hat allein unterwegs. Drei 16jährige Mädchen sagen: «Nein, von denen würden wir uns nicht heimbegleiten lassen. Die machen uns Angst.»
Kritisch beobachtet wird die Initiative von linken Politikerinnen und Politikern. Hasim Sancar vom Grünen Bündnis etwa sagt: «Sicherheit im öffentlichen Raum ist grundsätzlich und absolut Aufgabe der Polizei.» Solche privaten Initiativen könnten eine Dynamik auslösen, welche dies in Frage stelle. Damit werde auch ein subjektives Unsicherheitsgefühl geschürt. Und, da Gewalt gegen Frauen meist in den eigenen vier Wänden und nicht vom Fremden auf der Strasse verübt werde: «Stellen diese gewaltbetroffenen Frauen einen Wu-Shi in die Wohnstube?», fragt Sancar provokativ.
Berns SVP-Präsident Beat Schori hingegen hat nichts gegen die Aktion, solange die Wu-Shi keine Staatsgelder beantragen. Manuel Willi von der Berner Kantonspolizei stellt klar: Private Sicherheitsdienste – ob Securitas oder Wu-Shi – haben die gleichen Kompetenzen wie jede Privatperson: Sie dürfen sich oder eine andere Person verteidigen, wenn diese angegriffen wird, aber ohne Spezialbewilligung keine Waffe tragen. Ein Stock, ähnlich einem Spazierstock, den die Wu-Shi auf sich tragen, zähle nicht als Waffe.
Jeanne Allemann, Trainerin von Wen-Do, einem Selbstverteidigungsangebot von Frauen für Frauen, wiederum sagt: «Wir Frauen sollen und können uns selber verteidigen.» Sie fände es viel wichtiger, flächendeckend Selbstverteidigungskurse für Frauen, Mädchen und auch Buben anzubieten.
Begeistert von der Begleitung durch den Wu-Shi-Krieger ist hingegen die 27jährige Bernerin, die seit zehn Minuten mit ihm durch Berns Strassen spaziert. Der 30jährige Mike erzählt gerade, wieso er jeden Freitag freiwillig drei Stunden in der Kälte ausharrt. «Wenn jeder etwas Kleines dafür tun würde, wäre unsere Welt ein wenig besser. Das hier ist mein Part.» Mittlerweile, kurz vor Mitternacht, sind Berns Strassen fast menschenleer. Darum empfindet es die 27Jährige allein so spät als «ungemütlich», sie hat immer den Schlüssel griffbereit in der Hand, um notfalls zuzuschlagen.
Nun steht sie vor ihrer Haustüre. Mit einem grossen Merci bedankt sie sich fürs Geleit. «Ich komme wieder darauf zurück.»