Europa sucht nach Alternativen zum Erdgas, nicht zuletzt wegen der russischen Abhängigkeit. Ein vertrauliches Dokument der Bundesverwaltung zeigt, wohin der Weg gehen könnte. Aber es harzt.
Es dauert etwa zwölf Jahre, bis sich Methan in der Atmosphäre in seine Bestandteile auflöst. In Tagen wie diesen überholt die Politik aber die Chemie: Vor dem Hintergrund der russischen Invasion geht es plötzlich schnell und die europäische Versorgung mit Erdgas als Energieträger zeigt Auflösungserscheinungen. Noch bis vor kurzem wollte Deutschland eine zweite Pipeline für Gas aus Russland in Betrieb nehmen. Inzwischen ist Nord Stream 2 sistiert und die zuständige Firma in Zug steht vor dem Konkurs. Halb Europa sucht nach Alternativen, um sich aus der russischen Abhängigkeit zu lösen.
Gleichzeitig schloss US-Präsident weitere Sanktionen auch gegen russisches Gas und Öl nicht aus. Vielleicht kommt ihm der Markt sogar zuvor. Russische Energiefirmen bekunden zusehends mehr Mühe, ihre Rohstoffe loszuwerden. Niemand will sich in der angespannten Lage die Finger verbrennen, das Wort «Selbstsanktionierung» macht die Runde.
Im Bestreben nach mehr Eigenständigkeit in der Energieversorgung läutet die Stunde der erneuerbaren Energien. Am Donnerstag scheiterte SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann im Nationalrat nur knapp mit seinem Plan, Ausgaben von einer halben Milliarde Schweizer Franken vom Bund einzufordern. Über die Gletscher-Initiative verlangte er ein siebenjähriges Abrüstungsprogramm für Gaskessel in Schweizer Haushalten. Erst ein Rückkommensantrag der SVP mit Unterstützung aus FDP und Mitte verhinderten das Manöver.
Die Geopolitik ist der Katalysator einer Debatte, die in den vergangenen Wochen ohnehin schon stark drehte. Innert kurzer Zeit lud Bundesrätin Simonetta Sommaruga zu zwei Pressekonferenzen. Dort kündigte sie Massnahmen an, um die Energiewende zu schaffen und gleichzeitig Stromausfälle vor allem in Wintermonaten abzuwenden. Sie sprach von Sonne, Wind und Wasser, zuletzt auch wieder von Gas. Höchstens am Rande spielte ein weiterer Energieträger eine Rolle: Wasserstoff. Der Bund zeigt wenig Motivation, in näherer Zukunft die Möglichkeiten von H2 auszuschöpfen. Ganz im Gegenteil zu städtischen Energiewerken und Teilen der Industrie.
Szenenwechsel von Bern nach Dietikon: Das Regiowerk Limeco im Limmattal baut derzeit die grösste Power-to-Gas-Anlage. Eben erst wurde der Elektrolyseur angeliefert. Mit dem Strom aus der Kehrichtverbrennungsanlage wird er Wasser in seine Bauteile spalten, Sauerstoff und Wasserstoff. Damit entsteht das Gas, das sich später wieder in Strom umwandeln lässt. In einfachen Worten: eine Batterie. Jan Flückiger, Generalsekretär der Energiedirektorenkonferenz nannte solche Speicher einst das «fehlende Puzzlestück» bei der Dekarbonisierung.
Auch Sommaruga hat sich das Projekt schon angeschaut. Vor etwas weniger als einem Jahr machte sie auf ihrer Energie-Roadshow Halt in Dietikon. Sie lobte die Innovation und sagte, die Zukunft gehöre den Erneuerbaren. Tatsächlich arbeitet auch der Bund an einer Wasserstoff-Strategie. Dieser Zeitung liegen vertrauliche Dokumente vor, die zeigen, wohin der Weg führen könnte. Beim Erreichen der Klimaziele werde der Einsatz von Wasserstoff «eine entscheidende Rolle spielen», heisst es darin. Das Bundesamt für Energie werkelt deshalb an einer «Wasserstoff-Roadmap 2050», die aufzeigen soll, in welchen Bereichen die Verwendung von Wasserstoff sinnvoll ist.
An Bord sind mehr als zwei Dutzend Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Privaten. Schon jetzt zeigt sich: Kurzfristig wird Wasserstoff kaum viel Gewicht in der Energiestrategie des Bundes erhalten. Das «Sounding Board» der «Roadmap» ist vor allem noch mit dem Erarbeiten von Grundlagen beschäftigt. Die EU hat vor ziemlich genau drei Jahren ebenfalls eine solche Roadmap veröffentlicht. Je nach Szenario könne Wasserstoff bis 2050 rund einen Viertel des Energiebedarfs abdecken – heute sind es drei Prozent.
Auch der Bund sieht Potenzial, vor allem im Bereich Logistik: «Wasserstoff wird in der Schweiz hauptsächlich im Langstrecken-, Schwer-, Flug- und Schiffsverkehr sowie in der Industrie (Prozesswärme) zur Anwendung kommen», heisst es in einem Thesenpapier. Als Speicher eigne er sich aufgrund des Energieverlustes aber nur bedingt, und zum Heizen sei er «keine langfristige Option».
Die Städte der Schweiz sehen das anders. Viele von ihnen verfügen über eigene Energiewerke, die sich unter dem Namen «Swisspower» zu einem Verband zusammengeschlossen haben. Sprecher Philipp Mäder sagt: «Wir sind überzeugt, dass in Zukunft erneuerbare, CO2-neutrale Gase wie grüner Wasserstoff, Biogas und synthetisches Methan eine wichtige Rolle für die Energieversorgung der Schweiz spielen.» Im Sommer sei Strom aus der Fotovoltaik im Überfluss vorhanden, diesen gelte es zu speichern. «Wir warten schon seit längerer Zeit gespannt auf die Botschaft zum Gasversorgungsgesetz, in dem der Bundesrat seine Ideen zur Dekarbonisierung der Gasversorgung der Schweiz darlegen will», macht Mäder Druck.
Der Grund liegt in der urbanen Versorgungsarchitektur: In den Städten spielt Gas eine grosse Rolle. Die gesamte Berner Altstadt wird beheizt mit Erdgas. Mit einem Umstieg auf «grünes» Gas wie Wasserstoff, so die Hoffnung, könnte die Infrastruktur mit wenigen Anpassungen übernommen werden. Bei einer Elektrifizierung auf Basis von Erneuerbaren sähe das anders aus. Die Rechnung würde teurer.
Derweil zeigt sich auch die Industrie sehr aufgeschlossen gegenüber dem noch wenig genutzten Energieträger. Nach und nach schiessen Wasserstoff-Tankstellen aus dem Boden. Firmen wie Coop und Avia haben es sich zum Ziel gesetzt, bis 2023 ein flächendeckendes Netz über die Schweiz zu spannen. Die Logistik nutzt einen Vorteil: Durch den grünen Brennstoff spart sie sich die Mineralölsteuer. In dieser Nische wird auch der noch wenig eingesetzte Wasserstoff wettbewerbsfähig.
Hört man sich in der Energie-Branche um, heisst es: Die Schweizer Wirtschaft steht dem Ausland bei der Nutzung von Wasserstoff in nichts nach. Von staatlicher Seite sei allerdings wenig Unterstützung zu spüren. «Es gibt einen Hype um Wasserstoff», sagt Marianne Zünd, Sprecherin des Bundesamts für Energie auf Anfrage. Vorerst gelte es aber sauber zu analysieren und die für die Gesamtschweiz richtigen Schlüsse zu ziehen. «Eine Wasserstoff-Strategie des Bundes liegt voraussichtlich im Frühling 2023 vor», sagt Zünd.