VERDINGKINDER: Akten, die das Unrecht belegen

Bereits haben 1500 Opfer von Zwangsmassnahmen um einen Bundesbeitrag ersucht. Das grosse Interesse bekommen auch die Staatsarchive zu spüren, die bei der Suche nach Unterlagen helfen.

Tobias Bär
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Akten von Vormundschaftsbehörden – eine mögliche Quelle für die Opfer von Zwangsmassnahmen. (Bild: Peter Klaunzer/Keystone)

Akten von Vormundschaftsbehörden – eine mögliche Quelle für die Opfer von Zwangsmassnahmen. (Bild: Peter Klaunzer/Keystone)

Tobias Bär

Lange wurde das Schicksal der Verdingkinder und anderer Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen verdrängt. Den Startschuss zur Aufarbeitung gab Bundesrätin Simonetta Sommaruga. «Wir können nicht länger wegschauen, denn genau das haben wir bereits viel zu lange getan», sagte sie 2013 bei einem Gedenkanlass. Danach ging es für Schweizer Verhältnisse schnell. Bereits im September 2016 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das neben einer wissenschaftlichen Aufarbeitung einen Solidaritätsbeitrag von höchstens 25000 Franken für jeden Betroffenen vorsieht.

Ihre «Opfereigenschaft» müssen die Gesuchsteller mit Akten und Unterlagen glaubhaft machen. Anlaufstelle für die Betroffenen sind dabei die Staatsarchive der Kantone. Diese hatten bereits bisher mit Anfragen von Opfern zu tun, die ihre Akten einsehen wollten. Mit dem neuen Gesetz, das Anfang April in Kraft tritt, ist die Zahl der Anfragen aber gestiegen. «2016 hatten wir 44 Anfragen, im laufenden Jahr sind es bereits 24», sagt die stellvertretende Staatsarchivarin des Kantons St. Gallen, Regula Zürcher. Beim Staatsarchiv Luzern gingen bislang rund 160 Anfragen zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ein – 70 davon in den vergangenen drei Monaten.

Wie die anderen angefragten Staatsarchive der Ost- und Innerschweiz bearbeiten die Archive in Luzern und St. Gallen die Anfragen mit den vorhandenen Ressourcen. Dies im Gegensatz zum Staatsarchiv des Kantons Bern, das gemäss der «Berner Zeitung» drei temporäre Mitarbeiter angestellt hat, um die Anfragen zu bewältigen. «Andere Arbeiten müssen derzeit zurückgestellt werden», sagt der Luzerner Staatsarchivar Jürg Schmutz. Auch sein Zuger Amtskollege Ignaz Civelli, bei dem bislang mehr als ein Dutzend Anfragen eingegangen sind, sagt: «Wir setzen entsprechende Prioritäten.» Der Aufwand pro Fall schwanke zwischen einem halben und eineinhalb Arbeitstagen, sagt Civelli.

Eigentliche Misshandlungen nicht in den Akten

Das neue Gesetz deckt Fälle vor 1981 ab. Bis dahin ordneten die Behörden in der Schweiz bei jungen Menschen und Kindern Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor allem deshalb an, weil diese aus armen Verhältnissen stammten, als «schwierig» galten oder unehelich geboren wurden. Die Opfer erlitten körperliche oder psychische Gewalt, wurden sexuell missbraucht, zwangssterilisiert oder wirtschaftlich ausgebeutet.

«Was wir in den Akten vor allem nachweisen können, sind Entscheide von Behörden, etwa für Kindswegnahmen, Verdingungen und Heimeinweisungen», sagt Jürg Schmutz. Eigentliche Misshandlungen seien kaum aktenkundig. «Die Täterinnen und Täter von damals waren nicht so dumm, gleich noch in einer Aktennotiz festzuhalten, dass sie Menschen misshandelt hatten», so Schmutz. Im Kanton Obwalden seien insbesondere die Protokolle der Bürger- oder Einwohnergemeinderäte relevant, heisst es beim dortigen Staatsarchiv. Der Innerrhoder Landesarchivar Sandro Frefel bezeichnet die Unterlagen der Vormundschaftsbehörden oder die Verzeichnisse des Kinderheims Steig, in das bis in die 1980er-Jahre Waisen- und Verdingkinder eingewiesen wurden, als besonders geeignet. Meist liegen die relevanten Unterlagen bei den Gemeinden. «Die Zusammenarbeit lief vor Jahren etwas schleppend an, hat sich aber mittlerweile sehr verbessert», sagt der Luzerner Staatsarchivar Jürg Schmutz.

Unterlagen für fast jeden Fall

Die Gesuche werden vom Bundesamt für Justiz (BJ) sowie einer neunköpfigen beratenden Kommission geprüft, der auch Betroffene angehören. Für den Fall, dass die Unterlagen zerstört wurden oder nicht mehr auffindbar sind, kann auch eine «mündliche Darlegung» genügen. «Es ist aber nicht geplant, dass die Betroffenen, die keine Akten vorweisen können, vom Bund zu einem Gespräch eingeladen werden», sagt der Leiter des Fachbereichs «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen» im BJ, Reto Brand. Vielmehr sollen die Opfer bei den kantonalen Anlaufstellen vorsprechen können, welche dann wiederum dem Bund Bericht erstatten. «Solche Fälle werden aber nach bisheriger Erfahrung sehr selten sein. Irgendeine schriftliche Spur graben die Archive fast immer aus», sagt Brand.

Die Betroffenen können ihre Gesuche noch bis Ende März 2018 einreichen, danach beginnt die Auszahlung der Solidaritätsbeiträge. Bis gestern sind beim BJ bereits rund 1520 Gesuche eingegangen. Der Bundesrat rechnet mit 12000 bis 15000 Betrof- fenen.