Die Schweiz zeigte sich 1956 besonders solidarisch mit den ungarischen Flüchtlingen, nachdem die Sowjetarmee das Aufflammen einer Reformbewegung blutig beendet hatte. Bundesrätin Karin Keller-Sutter zieht Parallelen zu damals. Zeigt sich die Schweiz mit den Ukrainern genau so grosszügig wie mit den Ungarn?
Der Angriff auf die Ukraine erinnere sie an den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn 1956 und an jenen in Prag 1968. Bundesrätin Karin Keller-Sutter zeigte sich am Freitag betroffen angesichts der Brutalität der russischen Aggression: «Für die Menschen in der Ukraine haben die militärischen Aktionen schwerwiegende Konsequenzen. Die Schweiz ist solidarisch mit ihnen.»
Die Parallelen zu den Ereignissen 1956 und 1968 muss man nicht lange suchen: Der Aggressor sitzt und sass schon damals im Kreml in Moskau. Der Machthaber fühlt und fühlte sich provoziert durch die Verteidigung oder Implementierung von demokratischen und freiheitlichen Werten. Die Befürchtung: eine Annäherung an den Westen.
In Ungarn protestierten am 23. Oktober 1956 Studenten in Budapest. Sie verlangten demokratische Reformen. Doch die kommunistische Regierung hatte kein Gehör dafür und schoss auf die wachsende Ansammlung von Demonstranten, was einen Volksaufstand provozierte. Die Ungaren installierten kurzerhand eine eigene Regierung und forderten die Sowjetarmee auf, das Land zu verlassen. Doch die Besetzungsmacht und die Verbündeten des Warschauer Pakts fakelten nicht lange: Der Freiheitskampf endete wenige Tage später mit dem Einmarsch von zusätzlichen Sowjettruppen und der brutalen Niederschlagung des Aufstands. Tausende Menschen starben, 200'000 flohen in den Westen. Am 13. November 1956 beschloss der Bundesrat, ein Kontingent von 4'000 Ungarn-Flüchtlingen aufzunehmen. 6'000 weitere kamen später in die Schweiz.
Der Westen verzichtete auf militärische Hilfe, zeigte aber Solidarität mit den Menschen. In vielen Schweizer Städten organisierten Studenten Kundgebungen. Bis an Weihnachten spendeten Schweizerinnen und Schweizer 6,5 Millionen Franken, 8000 Personen spendeten Blut. Über 2 Millionen Pakete mit Medikamenten und Nahrungsmitteln hat das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) gesammelt und mit zehn Lastwagen-Konvois nach Budapest verfrachtet. Die Schweizer unterstützten zudem die österreichischen Auffanglager, die von ungarischen Flüchtlingen überrannt wurden. 35 Eisenbahnwagen organisierte das SRK, um Lebensmittel und Kleider ins Nachbarland zu bringen. Nebst der SBB half auch die damalige PTT und stellte 25 Postautos zur Verfügung, um Flüchtlinge von Österreich in die Schweiz zu bringen.
Mit deutlich weniger Blutvergiessen beendete die Sowjetarmee auch den Prager Frühling 1968 mit Gewalt. Der tschechoslowakische Präsident Alexander Dubček propagierte im April 1968 demokratische Reformen und einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz». Vier Monate später, am 21. August marschierte eine halbe Million Sowjetsoldaten in der Tschechoslowakei ein. Die Bevölkerung leistete gewaltfreien Widerstand, und entwendete beispielsweise Ortstafeln, um die Truppen zu verwirren. Dubček, dessen Reformen von der breiten Bevölkerung getragen wurden, brachten die Sowjets nach Moskau. Viele Menschen wollten daraufhin das Land verlassen.
Ein zweites Mal öffnete die Schweiz ihre Grenzen für Menschen, die nach Freiheit strebten, um der Bedrohung und Unterdrückung des sowjetischen Aggressors zu entkommen.
Und jetzt nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine will die Schweiz wieder solidarisch sein, wie Bundesrätin Karin Keller-Sutter am Freitag mehrmals wiederholte. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine wertet sie als Angriff auf demokratische Werte. Sie versprach: «Wir werden die Menschen in der Ukraine nicht im Stich lassen.»
Trotz so mancher Parallele gibt es im Vergleich zu damals gewichtige Unterschiede. Die Schweiz steht nicht mehr unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs, auch fehlt das grosse Feindbild: der Kommunismus. Historiker Sacha Zala von der Universität Bern erklärt, die Schweiz habe eine Tradition als «virulent antikommunistischer Staat». Das habe sich schon kurz nach dem Entstehen der Sowjetunion gezeigt. «Aus dieser starken antikommunistischen Prägung heraus entstand 1956 die grosse Solidarität mit den ungarischen Flüchtlingen.» Diese riesige Solidaritätsbekundung politisierte viele Menschen, wie Zala sagt. Darunter auch die spätere FDP-Bundesrätin Elisabeth Kopp.
Mit dem Ende des Kalten Krieges sei die ideologische Dimension weggefallen. Wenn heute Menschen vor autoritären Regimes fliehen, gebe es zwar immer noch Sympathien und Solidaritätsbekundungen. «Ich bin überzeugt, dass das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung viele Menschen in der Schweiz tief bewegt. Aber das systemische Element fehlt heute im Gegensatz zur Ungarnkrise 1956», sagt Zala.
Allerdings spielt auch die geografische Nähe der Ukraine eine Rolle. Dass nach Jahrzehnten des Friedens der Krieg auf den europäischen Kontinent zurückkehrt, hielten viele für undenkbar. Keller-Sutter erinnert daran, dass Kiew keine 24 Stunden Autofahrt entfernt liegt. «Das ist um die Ecke.»
Diese kulturelle Nähe trug 1956 und 1968 wesentlich dazu bei, dass sich die Flüchtlinge gut in der Schweiz integriert haben. Trotzdem antwortet Keller-Sutter auf die Frage, wie viele Flüchtlinge die Schweiz aufzunehmen gedenke, vage. «Wir sind vorbereitet, Menschen aufzunehmen, die in der Schweiz Zuflucht suchen.» Auch aus den Kantonen habe sie entsprechend positive Signale erhalten.