Interview
Der Vater der Selbstbestimmungs-Initiative sagt: «Es geht um den Stellenwert der direkten Demokratie»

Fast sämtliche Rechtsprofessoren lehnen die Selbstbestimmungs-Initiative ab. Nicht so Hans-Ueli Vogt: Er hat sie gar erfunden. Im Interview kontert er die Kritik an der Initiative.

Barbara Inglin, Doris Kleck
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SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt ist der geistige Vater der Selbstbestimmungs-Initiative. (Bild: Sandra Ardizzone)

SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt ist der geistige Vater der Selbstbestimmungs-Initiative. (Bild: Sandra Ardizzone)

Hans-Ueli Vogt, wollen Sie den Bürger davon überzeugen, sich überhaupt mit der komplexen Vorlage zu beschäftigen?

Bei der Initiative geht es um den Stellenwert der direkten Demokratie. Und diese Frage bewegt die Leute. Sie merken, dass Volksentscheide vom Parlament nicht umgesetzt werden.

Sie behaupten also, das Parlament mache, was es wolle?

Das Parlament trifft eigene politische Entscheidungen, obwohl das Stimmvolk die gleiche Frage anders entschieden hat. Das geht nicht. Dort, wo es einen Widerspruch zwischen einer vom Volk beschlossenen Verfassungsbestimmung und einer internationalen Verpflichtung gibt, räumt das Parlament neuerdings Letzterer den Vorrang ein. Am deutlichsten sieht man dies bei der Massen­einwanderungs-Initiative.

Das Parlament ist vom Volk gewählt. Es ist sein Auftrag, die konkrete Umsetzung einer Initiative festzulegen.

Der Entscheid des Parlaments ist demokratisch. Aber das Parlament ist an die Verfassung gebunden. Wenn es sich nicht mehr daran hält, reisst es die Macht an sich, obwohl die Stimmbürger der oberste Souverän sind. Es ist nicht in Ordnung, wenn das Parlament nach dem Motto handelt: Wir setzen den Willen von Volk und Ständen nicht um, und wenn das dem Volk nicht gefällt, können sich die Bürger ja dagegen wehren.

Die Selbstbestimmungs-Initiative verlangt, dass die Verfassung höher gewichtet wird als das nicht zwingende Völkerrecht. Damit können Sie nicht verhindern, dass das Parlament bei der Umsetzung von Initiativen vom Verfassungstext abweicht.

Das ist richtig, weil wir keine Verfassungsgerichtsbarkeit haben. Kein Verfassungstext kann einen Parlamentarier daran hindern, die Verfassung zu missachten. Hier sind die Wähler aufgerufen, zum Rechten zu schauen.

Weshalb fordern Sie nicht die Verfassungsgerichtsbarkeit?.

Das haben verschiedene Politiker und Parteien über Jahrzehnte erfolglos versucht. Ich selber bin dagegen, weil Richter nicht politische Entscheide treffen sollen. Mit unserer Initiative wollen wir dem Parlament sagen, dass es sich nicht mit Verweis auf internationales Recht über die Verfassung hinwegsetzen darf.

Der Personenfreizügigkeit hat das Volk mehrmals zugestimmt. Der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde vom Parlament beschlossen.

Genau. Hier stellt sich aber die Frage nach der Abfolge der Entscheide. Wenn das Volk eine Initiative annimmt, die einem früheren Entscheid widerspricht, dann muss der neue Entscheid höher ­gewichtet werden. Das sagt nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch die Rechtsprechung. Sonst wäre es den heutigen Stimmbürgern nicht möglich, einen Entscheid früherer Generationen zu korrigieren.

Das Problem ist doch, dass die SVP in jüngster Zeit vermehrt Initiativen lanciert hat, die völkerrechtlichen Verpflichtungen widersprechen, etwa die Ausschaffungs-Initiative.

Selbstbestimmung ist nicht nur ein Anliegen der SVP. Die Fair-Food-Initiative etwa hat auch internationalem Recht widersprochen. Wichtig ist, dass der Bundesrat vor jeder Abstimmung klar sagt, ob es Widersprüche zum Völkerrecht gibt. Wenn die Stimmbürger in Kenntnis dieser Tatsache Ja zu einer ­ Initiative sagen, erteilen sie damit auch den Auftrag, die entsprechenden internationalen Verpflichtungen möglichst anzupassen.

Wäre die Selbstbestimmungs-­Initiative bei der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative bereits in Kraft gewesen, hätte die Personenfreizügigkeit gekündigt werden müssen?

Ja. Hier gibt es einen eindeutigen Widerspruch zwischen Verfassungsbestimmung und internationalem Vertrag.

Wie sieht es bei der SVP-Initiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer aus? Diese führt zu Konflikten mit der Personenfreizügigkeit und mit der EMRK.

Hier liegt der Fall anders. Die Initiative selbst und das Umsetzungsgesetz sind nicht völkerrechtswidrig, sie lassen ­genügend Spielraum. Aber einzelne Gerichtsentscheide können zu einem Konflikt mit dem internationalen Recht ­führen. Das Gericht könnte in einem Einzelfall zum Beispiel die Ausschaffung eines kriminellen Ausländers beschliessen, obwohl dies der EMRK widerspricht. Solche einzelnen, abweichenden Urteile rechtfertigen die Kündigung der EMRK nicht. Dasselbe gilt für die Personenfreizügigkeit. Tatsache ist aber, dass kriminelle Ausländer aus der EU wegen der Personenfreizügigkeit gerade nicht ausgeschafft werden, weil das Bundesgericht die bilateralen Verträge höher gewichtet als die Verfassung. Das wollen wir korrigieren.

Die Gegner der Initiative warnen, bei einer Annahme drohe langfristig ein Ausschluss aus der EMRK.

Das ist eine kühne Behauptung. Sie impliziert, dass das Schweizer Stimmvolk derart verrückte Sachen beschliessen könnte, dass wir ausgeschlossen werden.

Es könnte sich dafür entscheiden, einzelne Grundrechte abzuschaffen.

Bis jetzt haben die Stimmbürger nur entschieden, die Grundrechte einzuführen! Dem Stimmvolk sind Extreme zuwider, es ist geradezu langweilig. So will es zwar die Zuwanderung beschränken, hat aber die weitergehende Ecopop-Initiative abgelehnt. Viel unberechenbarer als das Schweizer Stimmvolk ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser weitet sein Territorium immer mehr aus und mischt sich unter dem Titel der Menschenrechte in Detailfragen der einzelnen Länder ein.

Wäre ein Ausschluss für die Schweiz ein Problem?

Ja, ich finde, die Schweiz muss dabeibleiben. Aber auch ohne EMRK wäre die Schweiz keine Bananenrepublik, sie war schon vor dem Beitritt zur EMRK im Jahr 1974 ein Rechtsstaat.

Der EGMR schützt das Individuum vor staatlicher Willkür.

Das tun in erster Linie unsere eigenen Gerichte. Wer mit einem Urteil nicht zufrieden ist, kann es an zwei Instanzen weiterziehen. Dass noch eine vierte Instanz obendran steht, macht die Sache nicht unbedingt besser. Man müsste dann auch fragen: Wer kontrolliert denn die Richter in Strassburg? Es ist in Ordnung, dass wir bei der EMRK dabei sind. Aber diese fast religiöse Überhöhung des EGMR, der angeblich dafür sorgt, dass die Schweiz kein Unrechtsstaat wird, die ist übertrieben.

Der Initiativtext ist teils schwammig formuliert, er lässt viel Interpretationsspielraum.

Der Grad der Konkretisierung ist einem Verfassungsartikel genau angemessen. Die Verfassung muss bei der Anwendung einen gewissen Spielraum lassen.

Bei einem Widerspruch zwischen Bundesverfassung und internationalem Vertrag muss Letzterer neu ausgehandelt werden. Ist dies nicht möglich, muss dieser «nötigenfalls» gekündigt werden. Was verstehen Sie unter «nötigenfalls»?

Der Begriff «nötigenfalls» bedeutet, dass eine Abwägung gemacht werden muss, ob die Kündigung verhältnismässig ist. Bei einer Annahme der Fair-Food-Initiative zum Beispiel wären unsere Importvorschriften etwas strenger gewesen als die Normen der Welthandelsorganisation. Da die Abweichung aber gering ist, wäre eine Kündigung unverhältnismässig gewesen.

Die Aussagen über die Folgen einer Annahme gehen weit auseinander.

Dass der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse damit droht, 600 wirtschaftsrelevante Abkommen seien gefährdet, ist populistisch. Wenn dies so wäre, hätte die Schweiz so viele internationale Verträge abgeschlossen, die der Verfassung widersprechen. Das wäre skandalös, ist aber nicht so. Was dem Verband Angst macht, ist das umgekehrte Szenario: Die Schweiz schliesst einen Vertrag ab, und dieser wird dann durch eine Initiative in Frage gestellt. Solche Initiativen kann man aber nicht einfach verbieten, und es geht auch nicht an, dass sie nicht umgesetzt werden, wenn sie angenommen worden sind.

Die Abstimmungskampagne kommt erstaunlich brav daher. Wo bleiben die «fremden Richter», vor denen die SVP bei der Lancierung der Initiative noch gewarnt hat?

Wir reden Klartext in der Abstimmungskampagne: Es geht um das Stimmrecht jedes Schweizers und jeder Schweizerin.

Fast sämtliche Rechtsprofessoren lehnen die Initiative ab. Sie werfen Ihnen vor, den Initiativtext schludrig formuliert zu haben. Kränkt Sie diese Kritik in Ihrer Berufsehre?

Am Initiativtext würde ich kein Wort ändern. Lustig ist, dass ein Teil der Professoren kritisiert, die Initiative erreiche ihr Ziel nicht. Gleichzeitig stellen sie die Initiative als brandgefährlich dar. Da wird wild mit Argumenten gerungen, einfach um eine politische Absicht zu begründen. Ich finde, dass man sich bei der Frage der Selbstbestimmung nicht hinter juristischen Argumenten verstecken sollte. Die Frage, wer in einem Land das letzte Wort haben soll, ist eine politische. Einige der Professoren, welche die Initiative kritisieren, finden ja auch, man sollte das Initiativrecht einschränken. Sie haben zum Teil das Stimmvolk als Pöbel oder Narren bezeichnet. Wer so über das Initiativrecht und seine Mitbürger denkt, hat politisch völlig andere Überzeugungen als ich.