«SCHWEIZER NOBELPREIS»: Urgestein in Bewegung

Umweltphysiker Thomas Stocker erhält den Marcel-Benoist-Preis. Kaum einer kann das Eis besser lesen – sein Beitrag zur Rettung des Planeten.

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Dieser Widerspruch ist unauflösbar. Der Moment und der Verlauf wollen einfach nicht zusammenfinden, wenn es um klimatische, morphologische und topologische Veränderungen auf dieser Welt geht. Da sind Überschwemmungen, Murgänge, Felsstürze, die zum Zeitpunkt der Ereignisse nach Erklärung suchen. Und da sind Verweise auf Einflüsse, die sie begünstigt, vielleicht sogar ausgelöst haben könnten. Doch was bleibt, ist in der Regel der unerfüllte Wunsch nach der letzten Gewissheit. Denn die gibt es nicht.

Keiner weiss das besser als der Berner Umweltphysiker Thomas Stocker, nächster Träger des renommierten Marcel-Benoist-Preises, der zuweilen auch als «Schweizer Nobelpreis» bezeichnet wird. Es ist nicht der erste, den er sammelt. Und wohl auch nicht der letzte. Aber darum geht es dem «Foreign Honorary Member» der American Academy of Arts and Sciences auch nicht. Vielmehr sind es die Dinge an sich, die ihn umtreiben. Und die Folgen ihres Wandels. Ironie des Schicksals, dass der Piz Cengalo das Bergell in der Woche der Ankündigung des Preises für Stocker heimsuchte. Die Tatsache, dass der 58-jährige dreifache Familienvater, der seit bald einem Vierteljahrhundert an der Universität Bern forscht und lehrt, selber gleichsam ein Urgestein ist, passt zu seiner Disziplin. Es sind die grossen Zeitläufe, die ihn beschäftigen. Wohlwissend, dass ein Menschenleben in der Weltgeschichte nicht mehr als ein Bruchteil eines Augenzwinkerns ist. Das hat ihn die Befassung mit Klima-Rekonstruktionen aus den CO2-Konzentrationen in Eisbohrkernen gelehrt. Ein Wissenschafterleben im sprichwörtlichen Elfenbeinturm führt Stocker gleichwohl nicht. Dies umso weniger, als Klimaforschung und Klimapolitik heute Hand in Hand gehen. Meistens jedenfalls. Auch darin ist Stocker Experte. Als es 2015 um den Vorsitz im Weltklimarat (IPCC) ging, für den der Schweizer jahrelang federführend tätig war, wurde ihm der Südkoreaner Hoesung Lee vorgezogen. Aus politischen Gründen. Was zur Folge hatte, dass sich Stocker aus dem Rat zurückzog. Nicht aber aus der Klimaforschung, im Gegenteil. Und auch nicht aus der Kommentierung klimapolitisch relevanter Entwicklungen. Die Abkehr des US-Präsidenten Donald Trump vom Pariser Klimaabkommen, für das Stockers Arbeitsgruppe die Grundlagenarbeit geleistet hatte, wertete er beispielsweise als US-amerikanisches «Davonstehlen». Und dass Bundespräsidentin Doris Leuthard vor einem Monat die meteorologische Basisstation Swiss Camp im westgrönländischen Ilulissat besuchte, war ein Gemeinschaftswerk von Stocker und ETH-Professor Konrad Steffen, Direktor der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).

Unschwer zu erkennen: Stocker ist sich seiner Stimme im Kampf um die Deutungshoheit in der Klimadebatte bewusst. Und erhebt sie, wenn es der Sache dient. Doch als Aktivist sieht er sich nicht, ebenso wenig als Wahrsager, wie er der NZZ einst sagte. Aber wenn Stocker spricht, hören ihm Klimadeuter ebenso wie Klimaskeptiker zu. Vielleicht, weil sie spüren, dass zwar nicht jedes einzelne Naturereignis als Zeuge des Klimawandels gedeutet werden muss, die Reihe von Momenten aber einen Verlauf ergibt, dem wortwörtlich Weltbewegendes zugrunde liegt.

Balz Bruder