Eine Volksinitiative fordert die totale Trennung von Staat und Kirche nach Genfer Vorbild. Kritiker werfen den Initianten vor, die Identität des Tessins auslöschen zu wollen.
Die ersten paar hundert Unterschriften sind gesammelt. Aber es bleibt viel zu tun. «In zwei Monaten müssen wir 10000 Unterschriften zusammen haben – das wird hart», sagt Marco Cagnotti. Der Physiker gehört zur Tessiner Freidenkervereinigung, welche soeben die Volksinitiative «Ticino laico» (laizistisches Tessin) lanciert hat.
Ziel dieser Initiative ist es, eine totale Trennung zwischen Staat und Kirche zu erreichen und einen Verfassungsartikel entsprechend zu revidieren. Unter den Unterstützern finden sich prominente Köpfe wie alt FDP-Ständerat Dick Marty, der ehemalige SP-Fraktionschef im Bundeshaus, Franco Cavalli, oder Ex-Unia-Chef Renzo Ambrosetti.
Den Initianten ist es ein Dorn im Auge, dass die römisch-katholische Kirche sowie die evangelisch-reformierte Kirche zurzeit anerkannte Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Damit kommen sie in den Genuss gewisser staatlicher Privilegien und Förderungen. Die anerkannten Kirchen dürfen konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen abhalten. Pfarrstellen werden teilweise durch Steuergelder der politischen Gemeinden finanziert, das heisst auch durch Personen, die einer anderen Glaubensrichtung (etwa Buddhisten, Muslime) oder keinerlei Konfession angehören. Gemäss den jüngsten Erhebungen des kantonalen Statistikamtes erklären sich im historisch katholisch geprägten Tessin mittlerweile 20 Prozent der Bevölkerung als nichtkonfessionell.
Mit der in der Kantonsverfassung verankerten Anerkennung von Landeskirchen verfolgt der Kanton Tessin ein Modell, das die meisten Kantone kennen, mit individuellen Unterschieden je nach eigener Geschichte und Tradition. Die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat ist gemäss Artikel 72 der Bundesverfassung Sache der Kantone. So anerkennt der Kanton Luzern etwa neben der römisch-katholischen und evangelisch-reformierten auch die christkatholische Landeskirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts. In Basel-Stadt und im Kanton St. Gallen sind über diese Landeskirchen hinaus noch die israelitische beziehungsweise jüdische Gemeinde vom Kanton öffentlichrechtlich anerkannt. Islamische Glaubensgemeinschaften kennen diese Anerkennung bisher nicht, ein Umstand, den SP-Präsident Christian Levrat ändern will, um eine bessere gesellschaftliche Integration der in der Schweiz lebenden Muslime zu erreichen.
In eine ganz andere Richtung weist hingegen der Kanton Genf, dessen Ansatz das Vorbild für die Freidenker im Tessin ist. Gemäss der Genfer Kantonsverfassung ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet, doch niemand kann nach Artikel 25 Absatz 4 «gehalten werden, an die Kosten eines Kultus beizutragen». Damit wird das aus Frankreich stammende Prinzip einer klaren Trennung zwischen Staat und Kirche übernommen. Oder anders gesagt: Religion und Kirche ist reine Privatsache.
Dass Freidenker wie Dick Marty nun auch den Kanton Tessin auf Genfer Linie trimmen wollen, ist in christlichdemokratischen Kreisen eingeschlagen wie eine Bombe. «Diese Initiative verfolgt das klare Ziel, unsere eigene Geschichte und unsere unleugbaren christlichen Wurzeln auszulöschen», wettert CVP-Kantonalpräsident Fiorenzo Dadò. Und er spart auch nicht mit persönlicher Kritik an ehemaligen Staatsräten, die ihre «dicken Pensionsbezüge» nun dazu nutzten, eine solche Initiative zu lancieren. In den Chor der Kritiker stimmt mittlerweile auch die Lega dei Ticinesi ein, welche in ihrem Sonntagsblatt «Mattino» den Initianten sogar vorwirft, «die Islamisierung der Schweiz anzustreben».
Für die Freidenker sind diese Vorwürfe wiederum absurd. «Es geht darum, eine Diskussion um die Gleichbehandlung von Bürgern unterschiedlicher Glaubensrichtung zu lancieren, darunter auch solche, die eben nicht glauben», hält alt FDP-Staatsrat Gabriele Gendotti fest. Auch er sei ob des Vormarschs des Islams in Sorge. «Doch gerade darum halte ich einen absoluten laizistischen Staat, der auf das Primat des Rechts setzt, für das beste Gegenmittel», schreibt der ehemalige Nationalrat, der sich damit auch gegen eine öffentlichrechtliche Anerkennung muslimischer Glaubensgemeinschaften ausspricht, in einer Stellungnahme.