Richtungsstreit in der SP: Nun folgt die Standpauke des Oswald Sigg

Bei den Sozialdemokraten rumort es weiter: Nun geisselt
der ehemalige Vizekanzler den Anti-EU-Diskurs und den fehlenden Mut seiner Partei.

Henry Habegger
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Der 74-jährige Oswald Sigg beklagt die «politische Klimakatastrophe», wenn SP und SVP gemeinsame Sache machen. (Bild: Keystone)

Der 74-jährige Oswald Sigg beklagt die «politische Klimakatastrophe», wenn SP und SVP gemeinsame Sache machen. (Bild: Keystone)

Seit fast 50 Jahren ist Oswald Sigg Mitglied der SP und der Gewerkschaften. Er arbeitete für die SP-Bundesräte Willi Ritschard, Otto Stich und Moritz Leuenberger, für Adolf Ogi und Samuel Schmid (SVP), zuletzt war er Vizekanzler und Bundesratssprecher. Aber jetzt ist der altgediente Sozialdemokrat gar nicht mehr zufrieden mit seiner Partei.

«Die SP vertritt, wenn auch aus anderen Beweggründen, immer öfter die gleichen Positionen wie die SVP», sagt Sigg und spricht von einem «Warnsignal für jeden politischen Bürger». Denn wenn Corrado Pardini neben Christoph Blocher in der «Arena» stehe, dann stimme etwas nicht. «Wenn die Polparteien zusammengehen, wenn Nord- und Südpol zusammenkommen, dann ist das eine politische Klimakatastrophe», sagt Sigg.

«Brandgefährliches Theater»

Aufgeschreckt hat ihn jetzt «das bisher schlimmste Beispiel, das brandgefährliche Theater um das Rahmenabkommen», das die SP-Spitze um Präsident Christian Levrat aufführe. Mit ihrer ruppigen Ablehnung des Abkommens spiele die Parteispitze um den Freiburger Ständerat der «nationalen, ja nationalistischen SVP in die Hand, jener Partei, die den rechtskonservativen bis rechtsextremen EU-Abschaffern in der EU als Vorbild» diene.

«Dem Rahmenabkommen zustimmen und den Lohnschutz mit innenpolitischen Massnahmen sicherstellen»: Das ist das Rezept des Soziologen und Ökonomen Sigg. «Stattdessen wollen wir der EU diktieren, zu welchen Bedingungen wir der EU nicht beitreten – das ist die spiegelverkehrte Version der unsäglichen Brexit-Diskussion der Engländer.» Durch das Schlechtreden der EU aber würden die Anti-Demokraten in der EU in fataler Weise gestärkt. Wenn dies jetzt selbst europafreundliche Kreise wie die SP täten, sei es umso verhängnisvoller. Sigg sagt:

«Das Friedensprojekt Europa ist existenziell bedroht – und die Schweiz ist dabei das Vorbild all jener Kreise, die die EU zerstören wollen. Mit dieser Vorreiterrolle befördert die Schweiz das Scheitern des Friedensprojekts.»

Die Schweiz als EU-Killerin also.Das wäre ein böses Ende. «Zwar profitiert die Schweiz bisher wirtschaftlich, aber politisch verliert sie. Und wenn das Projekt EU scheitert, wird sie einen hohen Preis zahlen», steht für ihn fest. Für Sigg ist klar: «Es braucht keinen Mut, zum Rahmenabkommen Ja zu sagen. Mut braucht es, um Ja zum EU-Beitritt zu sagen – aber genau in diese Richtung müsste die SP Schweiz arbeiten. Sie muss wieder zum Ziel stehen, die EU von innen heraus zu verbessern und zu demokratisieren. Heute haben wir den Status eines Trittbrettfahrers. Wir müssten aber solidarisch sein mit der EU, in den Zug einsteigen und ihn auf andere Gleise bringen.»

Denn nur so, davon ist der ehemalige Vizekanzler überzeugt, sichert sich die Schweiz mittel- und langfristig ihren Wohlstand, ihre Eigenständigkeit und ihre direkte Demokratie. «Souverän ist man nicht ausserhalb der EU, im Gegenteil.»

Folgt Sigg nun Galladé?

Er formuliert auch generelle Kritik an seiner SP. «Sie hat seit Jahrzehnten keine Zukunftsprojekte mehr vorgelegt. Sie verwaltet, statt zu gestalten.» So habe die SP seit langem keine Volksinitiative mehr lanciert, die Grundsätzliches bewegen wolle. «Die SP sagt zu Initiativen wie beispielsweise dem Grundeinkommen regelmässig Nein.» Sigg war einer der Mitinitianten des Volksbegehrens. Jetzt ist er Mitinitiant der Initiative für eine Mikrosteuer auf dem Zahlungsverkehr. «Hoffentlich macht die SP da wenigstens mit.»

Er ist überzeugt, dass es für Probleme wie Demokratie, soziale Ungleichheit oder Migration neue und vor allem auch internationale Ansätze braucht. Nur: «Der SP fehlt der Mut zu neuen Ideen», sagt Sigg. Tritt der ehemalige Vizekanzler aus der SP wie Chantal Galladé? Sigg winkt ab: «Im Gegenteil: Wer nicht zufrieden ist, muss sich stärker engagieren.»

«Nicht Katze im Sack kaufen»

 Der SP-Fraktionsvorstand befasste sich gestern mit dem Rahmenabkommen. Fraktionschef Roger Nordmann (VD) danach: «Es ist viel zu früh, jetzt materiell zum Abkommen Stellung zu nehmen.» Zuerst müsse der Bundesrat «endlich seine Arbeit machen». Und zwar: Er müsse sagen, wie er die Umsetzung machen will, «das heisst, wie er das ausgehandelte Abkommen innenpolitisch umsetzen will». Dass die Regierung das bisher nicht wie üblich tat und den Parteien stattdessen bloss das 30 Seiten starke Abkommen zustelle, sei «eigenartig», so der SP-Fraktionschef. Was die Gewerkschaften betrifft, sagt Nordmann: «Sie können sich gar nicht bewegen, solange der Bundesrat nicht seine Umsetzungsvorschläge auf den Tisch legt. Niemand kauft ja die Katze im Sack.» Der SP-Fraktionschef ist insgesamt der Ansicht, dass das Abkommen, allenfalls mit Retouchen, noch zu retten ist: «Wenn der Bundesrat eine glaubwürdige Umsetzung auf den Tisch legt, die den Anliegen der Gewerkschaften Rechnung trägt und die Lohnschutz garantiert.» (hay)