Die Landeskirchen verlieren ständig Mitglieder. Schweizerinnen und Schweizer pilgern am Osterwochenende lieber an den Gelati-Stand im Tessin statt in die Kirchen auf der Alpennordseite. Das schreibt Chefredaktor Stefan Schmid in seinem Leitartikel.
Frohe Ostern. Unmittelbar nach Weihnachten stehen die Ostertage in der Hitparade der gesellschaftlichen Feiertage ganz oben. Für viele, die mit Maria, Josef und der Krippengeschichte wenig anfangen können, ist Ostern sogar das entspanntere Fest. Ostern bedeutet Eier suchen, Schoggihasen essen, Ostern signalisiert Frühling und Fruchtbarkeit. «Das heidnische Kirchenfest bietet allen einen spirituellen Mehrwert», schreibt der Historiker Urs Hafner in der «Neuen Zürcher Zeitung».
Was wir an Ostern eigentlich feiern? Jesus, der Sohn Gottes, wurde gekreuzigt, er ist für uns Menschen qualvoll gestorben. Zwei Tage später seine Wiederauferstehung. Ein Wunder. Eine unglaubliche Geschichte. Nur interessieren sich viele nicht mehr dafür. Gottesdienste sind selbst in diesen Tagen Minderheitsprogramme. Die Landeskirchen serbeln. Das Gedränge am Gelati-Stand in Ascona ist bedeutend grösser als in den Gotteshäusern auf der Alpennordseite. Der Bedeutungsverlust der Kirchen ist offensichtlich. Nicht aber der vermeintliche Abfall der Menschen vom Glauben. Nur 2 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind der Ansicht, dass Gott nicht existiert. Hafner schreibt: «Der Atheist, der illusionslos davon überzeugt ist, dass der Tod das endgültige Aus bedeutet, und der selbst in der grössten Krise kein Stossgebet zum Himmel schickt, ist die Ausnahme.» Bald 200 Jahre nach Karl Marx ist die These, Religion sei nur Opium fürs Volk, weitgehend widerlegt.
Die Kirchgänger werden immer weniger und immer mehr Mitbürger verweigern den Obulus an die geistliche Obrigkeit mittels Wechsel zur Kategorie der «Konfessionslosen». Gleichzeitig aber boomen allenthalben freikirchliche Organisationen. Bücher zu spirituellen Themen gehen weg wie heisse Weggli. Politische Parteien, die das christliche Europa vor nichtchristlichen Banden bewahren wollen, gewinnen Wahlen. Treibt uns die Angst vor dem Islam zurück zum leeren Grabe Jesu? Doch wir schweifen ab. Ostern ist für die meisten Zeitgenossen nicht der Anlass, sich über Gebühr mit religionsphilosophischen oder politischen Fragen auseinanderzusetzen. Ostern, das ist primär ein guter Moment, auf Distanz zu gehen, abzuschalten, Freiräume zu suchen. Fast wie weiland an Ostern 1981, als der gefürchtete Schlossknacker Walter Stürm aus dem Gefängnis Regensdorf ausbrach und der düpierten Staatsanwaltschaft einen Zettel hinterliess mit dem Hinweis: «Bin am Ostereier suchen, Stürm.»
Ostern, das ist ein verlängertes Wochenende, das man im Kreise der Familie brunchend oder radelnd verbringt. Am liebsten im Tessin, wie die Staumeldungen der letzten 24 Stunden offenbaren. Im Unterschied zu den Priestern scheinen die Tessiner Touristiker den Turnaround zu schaffen. Letztes Jahr hat die Zahl der Logiernächte um satte 4,6 Prozent zugenommen. Dank der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels pilgern gemäss neusten Zahlen der SBB 30 Prozent mehr Reisende in den Süden. Wie wenn es der positiven Nachrichten noch nicht genug wäre: Der kultige Eishockeyverein Ambri-Piotta steigt schon wieder nicht ab. Gott muss ein Tessiner sein. Oder zumindest der Osterhase.
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