Nach Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels wird die historische Bergstrecke von Zügen ohne Zugbegleiter befahren. Die Bahngewerkschaft hält dies für ein Sicherheitsrisiko für eine mehr als 100 Jahre alte Strecke.
FAIDO. Alle Aufmerksamkeit ist auf die offizielle Eröffnung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni gerichtet. Im Dezember folgt die Inbetriebnahme. Und die historische Bergstrecke? Zumindest bis Ende 2017 wird die SBB diese Linie gemäss Konzession als Fernverkehr betreiben. Im Unterschied zu den heutigen InterRegio-Fernverkehrszügen werden künftig aber Regionalzüge eingesetzt, die von Erstfeld via Scheiteltunnel nach Biasca/Bellinzona und in Gegenrichtung fahren. Es handelt sich um Flirt-Züge, die im Tessin als S-Bahn TILO im Einsatz sind.
Das neue Konzept und das vorgesehene Rollmaterial haben schon zu heftiger Kritik geführt. Doch dem Eisenbahnerverband SEV stösst besonders auf, dass die Züge über die alte Bergstrecke nicht mehr begleitet sein werden. Im RegioExpress sind keine festen Zugbegleiter vorgesehen. Gestern machten der SEV, aber auch lokale Politiker ihrem Unmut in Faido im Rahmen einer Medienorientierung Luft. Sie halten den Verzicht auf Zugbegleiter für ein Sicherheitsproblem für eine mehr als 100 Jahre alte Strecke.
Das Zugpersonal biete neben dem Service die nötige Sicherheit bei Zwischenfällen, speziell bei einem Tunnelbrand. «Der Lokführer hat im Ereignisfall zu viel zu tun, um allein für eine sichere Evakuation der Passagiere sorgen zu können», sagt etwa Andreas Menet, Zentralpräsident des Zugpersonalverbands. Verwiesen wird auch auf den Brand einer Cisalpino-Komposition im Zimmerbergtunnel im April 2006. Die reibungslose Evakuation habe damals nur dank des Zugpersonals erfolgen können. «Es kann nicht zugelassen werden, dass Züge, die lange Tunnel oder Strecken mit Besonderheiten wie die zahlreichen Kehrtunnel der Bergstrecke befahren, ohne Zugpersonal unterwegs sind», folgert der SEV.
Anders tönt es bei den SBB. In einer Medienmitteilung reagierten sie gestern auf die Vorwürfe. «Die Sicherheitsaspekte wurden für das neue Angebot, das im Dezember 2016 in Betrieb geht, geprüft», heisst es in der Mitteilung. Der Einsatz der Züge als RegioExpress garantiere auch ohne Begleitpersonal den vom Bundesamt für Verkehr auferlegten Sicherheitsstandard. Schon heute gebe es Fernverkehrsstrecken, etwa zwischen Zürich und Chur, die ohne Begleitpersonal auskämen.
«Im Falle eines grossen Passagieraufkommens oder der Präsenz angekündigter Gruppen wird die SBB eine Zugbegleitung auf der Gotthard-Bergstrecke aber prüfen», wie es in der Mitteilung heisst. Die Züge mit Niederflureinstieg seien im übrigen ideal für die Bergstrecke, auf der viele Touristen und Sportler mit Bikes unterwegs sein werden.
Pro Bahn Schweiz, die Interessenvertretung der Bahnkunden, teilt diese Einschätzung nicht. Sie hält das Rollmaterial für verfehlt auf der kurvenreichen Strecke, ganz abgesehen von dem Zwang zum Umsteigen in Erstfeld. Wenn man Touristen anziehen wolle, brauche es auch Auskunftspersonen, sprich Zugbegleiter. In der 1. Klasse werde S-Bahn-Service angeboten. «Das Ganze ist lieblos – kein Dienst am Kunden», sagt Pro-Bahn-Präsident Kurt Schreiber. Und verweist als gutes Beispiel auf die BLS, die auf der Lötschberg-Bergstrecke trotz Basistunnel nicht auf Personal verzichtet hat.
Sicher ist, dass das neue Konzept der SBB hilft, Personal einzusparen. Laut SEV ist mit einem Personalabbau von rund 20 Prozent an den Standorten Bellinzona und Chiasso zu rechnen. Die SBB bestätigt auf Anfrage diese Zahl. Es werde aber zu keinerlei Entlassungen kommen. «Die Reduktion kann durch die normale Fluktuation beim Personal aufgefangen werden», sagt SBB-Sprecherin Roberta Trevisan. Die SBB rechnet im übrigen nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels damit, dass sich die Zahl der Passagiere auf der Bergstrecke von heute 9000 auf 500 reduzieren wird.