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Schweiz
Ein Katastrophenhelfer reist im Auftrag des Bundes in Krisengebiete auf der ganzen Welt. Als er krank wird und selbst Hilfe braucht, erhält er keine.
«Wie nach einem Atombombenabwurf.» So beschreibt der 44-jährige Martin Peterhans (Name geändert) die Szenerie nach seiner Ankunft in Banda Aceh 2005. Er sitzt in der Cafeteria einer psychiatrischen Klinik und erzählt seine Geschichte. An Weihnachten 2004 hatte einer der schlimmsten Tsunamis der Geschichte alleine in Indonesien über 15'000 Menschen getötet. «Wir erhielten Masken mit einer riechenden Crème gegen den Leichengestank. Wenn Tote am Boden lagen, versuchte ich, wegzuschauen. Aber die Leichensäcke und die Massengräber waren überall.» Es war sein erster Einsatz für das Schweizerische Korps für Humanitäre Hilfe (SKH) des Bundes. Damals war Peterhans 30 Jahre alt.
Der gelernte Speditionskaufmann hatte sich wenige Jahre davor beim «operationellen Arm» der humanitären Hilfe beworben: Als Milizorganisation suchte das Korps Logistik-Experten, die bei Umweltkatastrophen, Kriegen und anderen Krisen schnell und flexibel an Auslandmissionen teilnehmen können. Peterhans wurde aufgenommen.
Im Zeitraum von zehn Jahren bot ihn das SKH zu über einem Dutzend Auslandmissionen auf. Er rückte aus, als Israel 2009 den Gaza-Streifen bombardierte, als Libyen 2011 im Bürgerkrieg versank und als in Nepal 2015 bei einem Erdbeben 8800 Menschen starben. Peterhans war stolz auf seine Arbeit als Helfer. «Es war immer wieder ein unbeschreibliches Gefühl, eine Frachtmaschine mit Trinkwasser, Medizin und Notunterkünften zu beladen, und zu wissen: Ich helfe mit, Leben zu retten. Das ist unglaublich befriedigend.»
Doch Peterhans zahlte einen hohen Preis für seine Einsätze. Anzeichen, dass etwas nicht mehr in Ordnung war, gab es schon nach seiner ersten Mission in Indonesien 2005. Zuhause in der Schweiz litt er auf einmal an Bluthochdruck, Magenbeschwerden und Weinkrämpfen. Geschlossene Räume, Zug fahren, aber auch Fliegen machten ihm plötzlich Angst. Der Hausarzt konnte keine körperlichen Ursachen feststellen und schickte ihn zu einem Psychiater. Der stellte erstmals die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Nach einem halben Jahr Therapie hielt er die Symptome für abgeklungen. Peterhans rückte wieder aus.
Es folgten Einsätze in Ländern wie Kenia, Irak oder der Ukraine. Die Verantwortlichen beim humanitären Korps bemerkten nicht, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Und Peterhans erwähnte nicht, dass er eine schwierige Phase durchlebt hatte: Er wollte nicht, dass man ihn für schwach hält. Die Missionen bereiteten ihm Freude.
Als die Beschwerden nach einigen Jahren wieder auftauchten, reagierte er mit Sport, Yoga, gesunder Ernährung.
«Ich habe die Symptome nie mit meinen Einsätzen verbunden. Ich dachte, ich gewöhne mich daran.»
Es ist Herbst 2017, als es auf einmal nicht mehr geht. Zwei Jahre sind seit seinem letzten Einsatz in Nepal vergangen. Der Hausarzt schickt Peterhans wieder zum Psychiater. Er erhält eine bekannte Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung. Peterhans sagt konsterniert: «Ich war alles andere als geheilt nach der ersten Traumatherapie 2006 und 2007.»
Psychiater und Psychotherapeuten sind sich einig: Die fast 300 Diensttage für die humanitäre Hilfe haben ihn krank gemacht. An weitere Einsätze ist nicht mehr zu denken. Anfang 2018 meldet er seinen Krankheitsfall dem Humanitären Korps und der von der Suva geführten Militärversicherung. Auf deren Leistungen haben SKH-Angehörige bei Unfällen und Krankheiten Anspruch.
Zu Beginn scheinen die Dinge ihren normalen Lauf zu nehmen: Der Konsiliarpsychiater der Versicherung bestätigt in seinem Gutachten, dass Peterhans’ postraumatische Beschwerden in Zusammenhang «mit den Einsätzen in Indonesien im Jahr 2005 sowie mit den vielen späteren Auslandeinsätzen» stünden. Die Schilderungen von Peterhans bezeichnet er als «ausgesprochen differenziert, konkret, präzise und glaubhaft». Er empfiehlt eine «mehrmonatige, komplette Entlastung der Arbeitstätigkeit». Peterhans, der ein eigenes Geschäft hat, muss eine Aushilfe einstellen und beantragt bei der Militärversicherung Krankentaggeld sowie die Übernahme der weiterlaufenden Fixkosten.
Dann kommt der Schock. In einem Vorbescheid und in einer Verfügung vom Herbst 2018 lehnt die Militärversicherung die Übernahme seiner Behandlungskosten und die Bezahlung des Krankentaggelds ab. Der zuständige Leiter Versicherungsleistungen der Suva sieht «keinen adäquaten Kausalzusammenhang» zwischen den Einsätzen in Katastrophengebieten und der posttraumatischen Belastungsstörung – obwohl der Konsiliarpsychiater ebendies bestätigt hat.
Stattdessen nennt die Versicherung private Schicksalsschläge wie den Tod von Peterhans’ Mutter als möglichen Grund für dessen psychische Probleme und mutmasst über eine Persönlichkeitsstörung in der Kindheit. Das Fazit: Haftung abgelehnt. Der humanitäre Helfer soll keine Hilfe erhalten.
Weil ihm das Geld für einen Anwalt fehlt, erhebt Peterhans selber Einsprache und tritt Anfang dieses Jahres eine dreimonatige Trauma-Therapie in einer psychiatrischen Klinik an. Seit kurzem ist er wieder zuhause, arbeitsfähig ist er nicht. Ohne Krankentaggeld und sonstige Unterstützung zur Finanzierung einer Aushilfe geht sein Geschäft langsam zu Grunde. «Es droht der Konkurs», sagt Martin Peterhans.
Mit 44 Jahren steht er vor einem Scherbenhaufen. Er, der auszog, um zu helfen, fühlt sich im Stich gelassen.
Die Militärversicherung will seinen Fall aufgrund des laufenden Verfahrens nicht kommentieren. Das Aussendepartement (EDA) betont: Das Wohlergehen der Mitglieder des Humanitären Korps habe oberste Priorität. Es räumt auch ein: Bei Nothilfeaktionen seien die Mitglieder des SKH sehr oft Extremsituationen ausgesetzt.
«Nach dem Tsunami 2004 – einer Jahrhundert-Katastrophe – gab es bei mehreren Personen starke Reaktionen.»
Posttraumatische Belastungsstörungen träten «glücklicherweise» sehr selten auf. Das EDA hält fest, dass es sich im vorliegenden Fall «mehrmals schriftlich an die Militärversicherung gewandt und dieser die teilweise sehr schwierige und belastende Natur der Einsätze des SKH dargelegt» habe.
Für Peterhans ist das ein schwacher Trost. Er hofft, dass er möglichst bald Zugang zu einem Anwalt erhält. Zurzeit vertritt er sich selber. Die Suva hat ihm mitgeteilt, die Behandlung seiner Einsprache könne noch bis zu einem Jahr dauern.
Verkehrsunfälle, körperliche und sexuelle Gewalt, Krieg und Naturkatastrophen: Wer Glück hat, bleibt zeit seines Lebens von schlimmen Erlebnissen wie diesen verschont. Die meisten Menschen werden jedoch früher oder später mit einem potenziell traumatisierenden Ereignis konfrontiert, sei es zufällig oder aufgrund ihres Berufs. Einige verarbeiten das Erlebte gut. Andere werden krank.
Ein bekanntes Krankheitsbild ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Dabei durchleben die Betroffenen das traumatische Ereignis immer wieder, zum Beispiel in Form von Flashbacks, Angstzuständen oder Albträumen. Sie leiden oft an Schlaf- und Konzentrationsstörungen, sind leicht reizbar und haben Mühe, Freude zu empfinden und am sozialen Leben teilzunehmen. Typisch ist, dass die Patienten versuchen, Situationen zu vermeiden, die Erinnerungen an das Erlebte hervorrufen. Die Störung tritt manchmal kurz nach dem Ereignis auf, manchmal Monate oder Jahre später.
Schätzungsweise zwei bis sieben Prozent aller Menschen erkranken einmal in ihrem Leben an einer PTBS. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. In den USA ist die Posttraumatische Belastungsstörung besonders unter Kriegsveteranen verbreitet. In der Schweiz verzeichnet die von der Suva geführte Militärversicherung laut eigenen Angaben durchschnittlich fünf gemeldete PTBS-Fälle pro Jahr. Zwischen 2012 und 2018 waren es insgesamt 34 Fälle. Es gibt verschiedene therapeutische Ansätze, um die Krankheit zu behandeln. (lh)