Die kantonalen Staatsanwaltschaften verzichten in Einzelfällen auf die Ausschaffung krimineller Ausländer. Die rechtliche Grundlage für dieses Vorgehen fehlt allerdings.
Tobias Bär
Die Mitteilung lässt aufhorchen: Die kantonalen Staatsanwaltschaften haben im ersten halben Jahr nach Inkrafttreten der Ausschaffungs-Initiative rund 50 Mal auf eine Landesverweisung verzichtet. Das gab die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz (SSK) vergangene Woche bekannt. In all diesen Fällen beging ein Ausländer zwar eine Tat, die gemäss der Umsetzungsgesetzgebung zur SVP-Initiative automatisch eine Ausschaffung zur Folge hat. Doch die Staatsanwälte wandten jeweils die vom Parlament eingebaute Härtefallklausel an. Gemäss dieser kann «ausnahmsweise» von einer Ausschaffung abgesehen werden.
Interessant ist nicht die Zahl der Härtefälle. Um diese einordnen zu können, müsste man sie der Zahl der Ausschaffungen gegenüberstellen können. Die meisten Verfahren, die gemäss den neuen Gesetzesbestimmungen einen Landesverweis zur Folge haben könnten, sind aber noch bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten hängig.
Interessant ist vielmehr, dass die Staatsanwälte die Härtefallklausel anwenden. Das Gesetz weist die Verantwortung dafür nämlich eindeutig den Gerichten zu. «Es ist richtig, dass im Gesetz nur von den Gerichten die Rede ist», sagt der Luzerner Generalstaatsanwalt Daniel Burri, der im Vorstand der SSK sitzt. Doch auch bei anderen Bestimmungen spreche das Gesetz ausschliesslich vom Gericht, obschon diese auch von den Staatsanwälten angewendet würden.
Wäre das Strafbefehlsverfahren – also ein Verfahren ohne Gerichtsurteil – bei Fällen mit ausländischen Beschuldigten generell nicht mehr möglich, dann wäre das gemäss Burri mit «erheblichem Mehraufwand und zeitlicher Verzögerung verbunden». Indem die Staatsanwaltschaften die klaren Härtefälle mit einem Strafbefehl erledigten, entlaste man die Gerichte. Dies sei deshalb wichtig, weil die Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative «wie erwartet» eine spürbare Mehrbelastung für die Justizbehörden mit sich gebracht habe, so Burri. Die Staatsanwaltschaften entschieden aber nur in absoluten Ausnahmefällen per Strafbefehl. «Es geht um Fälle, die zweifellos auch vom Gericht als Härtefälle beurteilt würden.» Sämtliche Verfahren, bei denen eine Ausschaffung in Frage komme, leite man ans Gericht weiter.
Die SSK hat Kriterien für die kantonalen Staatsanwaltschaften ausgearbeitet. Diese sollen unter anderem die Integration, die familiäre und finanzielle Situation sowie den Arbeits- oder Ausbildungswillen des Täters berücksichtigen. Verfügt der straffällige Ausländer über eine Aufenthaltsbewilligung, droht ihm für die Tat bloss eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten oder eine Geldstrafe von bis zu 180 Tagessätzen, und hat er ein weisses Vorstrafenregister – dann handelt es sich gemäss SSK um einen Härtefall. Burri schildert ein fiktives Beispiel: Ein Ausländer um die 20, der in der Schweiz aufgewachsen ist, einer geregelten Arbeit nachgeht und keine Vorstrafen hat, stiehlt dem Nachbarn das Mountainbike aus dem Keller. «In einem solchen Fall empfehlen wir den Staatsanwaltschaften, per Strafbefehl auf eine Landesverweisung zu verzichten.»
SVP-Nationalrat Toni Brunner stört sich an diesem Vorgehen: «Die Staatsanwaltschaften fällten Entscheide, die eigentlich Sache der Gerichte wären. Und das erst noch auf der Grundlage von grosszügigen Kriterien, die sie selber festgelegt haben.» Brunner sagt, eine Bilanz lasse sich zwar erst zusammen mit der Zahl der von den Gerichten verfügten Ausschaffungen ziehen. Der Bund hat diese für Sommer in Aussicht gestellt. «Doch es ist offensichtlich, dass wir es hier mit einem weiteren traurigen Beispiel einer Nicht-Umsetzung einer Initiative zu tun haben.»
Daniel Burri hält dagegen: «Wir gehen sehr sorgfältig mit der Härtefallklausel um.» Die 50 Fälle seien angesichts von mehreren hundert hängiger Verfahren eine kleine Zahl. «Die Staatsanwaltschaften aller Innerschweizer Kantone wandten die Härtefallklausel im ersten halben Jahr nur ein einziges Mal an.» Die Staatsanwaltschaft St. Gallen hat von Oktober bis Dezember lediglich zwei Mal einen Härtefall angenommen, wie Sprecher Roman Dobler sagt. Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat bis Ende Februar zwölf Mal auf eine Ausschaffung verzichtet.
Es gibt aber auch Staatsanwaltschaften, die sich nicht an die Empfehlungen der SSK halten. Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft wendet die Härtefallklausel selber nicht an, sondern klagt alle Fälle am Gericht an, wie Sprecher Thomas Lyssy sagt. Auch im Kanton Thurgau und im Kanton Aargau entscheiden ausschliesslich die Gerichte über den Verzicht auf eine Ausschaffung – wie es das Gesetz vorsieht.