Junge Erwachsene landen teils vorschnell in der Invalidenversicherung. Der Nationalrat will die Früherfassung deshalb verbessern, aber auch Fehlanreize beseitigen.
Die Invalidenversicherung wurde in den letzten Jahren bereits mehrfach revidiert, eigentlich erfolgreich. Die Rentenquote hat sich innerhalb von zehn Jahren halbiert, die Zahl der Neuanmeldungen ist gesunken. Das sei eine sehr positive Entwicklung, sagte Bundesrat Alain Berset in der Ratsdebatte. Nur gelte sie nicht für alle, insbesondere nicht für junge Erwachsene.
Im letzten Jahr wurde für 1830 Personen unter 25 Jahren neu eine IV-Rente ausgesprochen, das sind sogar leicht mehr als vor zehn Jahren. Mit Abstand häufigster Grund für einen Bezug sind psychische Störungen, von geistiger Behinderung über Entwicklungsstörungen wie Autismus bis zu Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie.
Nicht die Mehrheit, aber doch einige von ihnen landen wohl etwas vorschnell in der Abhängigkeit der Invalidenversicherung. So kam ein Forschungsbericht des Bundes zum Schluss, dass ein Fünftel der jungen Versicherten eine Rente erhält, obwohl der jeweilige Arzt von einem verbesserungsfähigen Gesundheitszustand ausgeht. Die Folgen für die Betroffenen, aber auch für die Gesellschaft, sind verheerend, betonten in der gestrigen Ratsdebatte mehrere Nationalräte. Denn gerade wer jung eine IV-Rente zugesprochen erhält, bleibt meist bis zum Übergang in die AHV davon abhängig. Das nagt am Selbstwertgefühl, und kostet den Staat Unsummen.
Mit mehreren Massnahmen soll die Zahl der jungen Neurentner nun verringert werden. Der Nationalrat hat gestern beschlossen, die Früherfassung für Jugendliche zu verbessern. Künftig sollen diese möglichst schon in der Schulzeit erfasst werden, wenn der Einstieg ins Berufsleben gefährdet ist. Ab dem 13. Altersjahr sollen sie der IV gemeldet werden können, damit diese Unterstützungsmassnahmen ergreifen kann. Mit der Revision sollen aber auch Fehlanreize beseitigt werden. Denn heute erhalten junge IV-Versicherte teils ein deutlich höheres Taggeld, als ihre gleichaltrigen Kollegen mit ihrem Lehrlingslohn verdienen. Der Anreiz, trotz einer gewissen Beeinträchtigung ins Erwerbsleben einzusteigen, ist entsprechend gering. Der Nationalrat will deshalb, wie der Bundesrat, die Höhe des Taggeldes für junge Bezüger den Lehrlingslöhnen angleichen.
Die Zunahme der jungen IV-Rentner ist auch in anderen Ländern ein Problem, wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einem Bericht von 2014 schreibt. Die OECD nennt als einen möglichen Grund, dass die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt gestiegen sind. Der Berufseinstieg sei für junge Personen mit psychischen Erkrankungen schwieriger geworden.
Neben den jungen Erwachsenen hat die Vorlage auch eine allgemein bessere Eingliederung psychisch Kranker im Fokus. Diese machen fast die Hälfte aller IV-Fälle aus. Besonders umstritten im Rat war aber ein anderer Punkt, die von der vorberatenden Kommission eingebrachten Kürzung der sogenannten Kinderrenten. Bei dieser handelt es sich, anders als es der Name vermuten lässt, nicht um eine Rente für behinderte Kinder, sondern um eine Zusatzrente für IV-Bezüger mit Kindern. Heute liegt die Kinderrente bei 40 Prozent der Invalidenrente, neu sollen es nur noch 30 Prozent sein. Die bürgerlichen Befürworter einer Senkung argumentierten, damit könnten Fehlanreize korrigiert werden. Denn Versicherte mit mehreren Kindern hätten heute kaum einen Anreiz, wieder eine Arbeit aufzunehmen. Gemäss Schätzung könnten mit der Anpassung insgesamt fast 130 Millionen eingespart werden.
Die Ratslinke stellte sich gegen die Senkung. Von der Kürzung wären über 70000 Kinder von IV-Bezügern und 26000 Kinder von AHV-Bezügern betroffen, warnte Nationalrätin Maya Graf (Grüne, BL). Die Anpassung sei unverständlich. Zudem führe sie zu einer Kostenverlagerung in die Ergänzungsleistungen. Der definitive Entscheid zu den Kinderrenten fällt der Nationalrat erst heute Donnerstag. Danach geht das Geschäft an den Ständerat.