«In der EU-Frage spielt Bern auf Zeit»

HSG-Professor Carl Baudenbacher wirft dem Bundesrat vor, kein europapolitisches Konzept zu haben und stattdessen einfach in den Tag hineinzuleben. Die Schweiz habe sich der Illusion hingegeben, dass es mit dem bilateralen Weg einfach immer weitergehe.

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EU-Zentrale: Unwille über die Bilateralen immer wieder bestätigt. (Bild: ap/Yves Logghe)

EU-Zentrale: Unwille über die Bilateralen immer wieder bestätigt. (Bild: ap/Yves Logghe)

Herr Baudenbacher, Sie läuteten als einer der ersten das Totenglöcklein des bilateralen Weges ein. Ist er zur Sackgasse geworden?

Carl Baudenbacher: Ja. Ich habe bereits 2010 einen zweiten EWR-Anlauf empfohlen. Dass es mit Bilateralismus nicht unbegrenzt weitergehen würde, war spätestens seit Dezember 2008 klar, als der Rat der EU, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten sitzen, sich in einem Papier kritisch zum bilateralen Verhältnis mit der Schweiz äusserte. Das EWR-Abkommen, das mit Norwegen, Island und Liechtenstein als Efta-Partnern sehr gut funktioniert, ist entscheidend von Schweizer Unterhändlern geprägt worden. Es ist, wie der frühere liechtensteinische Regierungschef Hans Brunhart gesagt hat, das «schweizerischste aller Abkommen», weil Wirtschaftsinteressen den Grad der Integration bestimmen. Seit 2008 hat die EU ihre Unwilligkeit, den bilateralen Weg mit der Schweiz weiterzugehen, bei jeder Gelegenheit bestätigt.

Die EU stellt erneut Forderungen – etwa die raschere Übernahme von neuem EU-Recht oder die Überwachung der Umsetzung durch eine Behörde und einen Gerichtsmechanismus. Das löst hier keine Begeisterungsstürme aus.

Baudenbacher: Die Forderungen der EU sind alle dem EWR-Abkommen entnommen, es handelt sich keineswegs um revolutionäre Vorschläge. Norwegen, Island und Liechtenstein leben gut mit diesen Mechanismen. Die Mitgliedstaaten der EU und die drei EWR/Efta-Staaten haben kein Verständnis dafür, dass man sich hierzulande mit der Anpassung der bilateralen Verträge an neue Entwicklungen des EU-Rechts Zeit lässt und dass über von der EU behauptete Verstösse gegen bilaterale Verträge durch die Schweiz kaum wirksam entschieden werden kann. Derzeit müssen Konflikte meist diplomatisch gelöst werden. Das ist schwerfällig und das Ganze findet hinter verschlossenen Türen statt. Das widerspricht modernen rechtsstaatlichen Prinzipien.

Einen EWR II will der Bundesrat derzeit nicht anstreben, weil er ihn für politisch nicht machbar hält. Er hat sich aber grundsätzlich bereit erklärt, über die Forderungen der EU zu verhandeln. Was bedeutet das?

Baudenbacher: Leider klammert sich der Bundesrat selbst als Akteur aus, wenn er sagt, ein EWR II habe politisch keine Chance. Tatsache ist zum einen, dass der EWR 1992 daran gescheitert ist, dass der Bundesrat gespalten war. Zum anderen habe ich kein überzeugendes Argument gegen einen EWR-Beitritt gehört. Entscheidend wäre, dass der Bundesrat mit einer Stimme spricht und dass die Kantone und die grossen Verbände hinter der Vorlage stehen.

Die EU pocht auf Dynamisierung, die Schweiz plädiert auf Souveränität. Wie können wir diesen Spagat schaffen?

Baudenbacher: Kein Land ist heute wirklich souverän – nicht einmal die Supermächte. Bei uns wird mit einem überholten Konzept der Staatssouveränität operiert. Jeder Konflikt, der unter einem bilateralen Vertrag ausbricht, wird als Konflikt zwischen der Schweiz und der EU – wir gegen sie oder sie gegen uns – wahrgenommen. Meistens geht es aber um die Interessen der Marktakteure. Alles, was einzelne und Unternehmen heute im Konfliktfall tun können, ist in Bern anzurufen und um diplomatischen Schutz zu bitten. Das erinnert an das Ancien Régime.

Mag sein, aber wie beurteilen Sie die aktuelle doch verfahrene Situation der Schweiz mit der EU?

Baudenbacher: Sie war seit dem EWR-Nein nicht mehr so verfahren. Die Schweiz hat sich der Illusion hingegeben, dass es mit dem bilateralen Weg immer weitergehen wird. Was 1993 als Überbrückungslösung gedacht war, wurde zum spezifisch schweizerischen Integrationsmodell hochstilisiert. Nachdem man den Bilateralismus jahrelang als Königsweg bezeichnet hat, wagt man nicht, dem Volk reinen Wein einzuschenken. Dass Bern auf Zeit spielt – nicht erst seit der Eurokrise –, ist unverkennbar. Es gibt kein europapolitisches Konzept, man lebt in den Tag hinein.

Der ehemalige EWR-Chefunterhändler Blankart geht davon aus, dass die Schweiz eigentlich nur zwei Möglichkeiten habe: Entweder kopiert sie EU-Recht und wird damit zum Satelliten oder sie tritt dem EWR bei und erhält Mitgestaltungsrechte.

Baudenbacher: Ich sehe das ebenso. Absolute Freiheit gibt es nirgends mehr. Ein EU-Beitritt, bei dem man mitbestimmen könnte, ist unrealistisch. Im Gegensatz zum Bilateralismus enthält der EWR zahlreiche souveränitätsschonende oder satellisierungsdämpfende Mechanismen. Dazu gehören auch die Efta-Überwachungsbehörde und der Efta-Gerichtshof.

Professor Silvio Borner meinte kürzlich, die EU sei eine Fehlkonstruktion und beruhe auf drei inkompatiblen Prinzipien: Kein Ausstieg, kein Staatsbankrott und die No-Bail-out-Klausel; letztere sollte sicherstellen, dass ein Euroland nicht für Verbindlichkeiten und Schulden anderer EU-Länder haften oder aufkommen muss. Da besteht doch Handlungsbedarf?

Baudenbacher: Ich will diese Aussagen meines Freundes Borner nicht in der Sache kommentieren, aber sie haben nur am Rande mit unserem Verhältnis zur EU zu tun. Es mag sein, dass es in der Konstruktion der EU Fehler gibt, aber die EU ist eine Tatsache. Wir sind von ihr umgeben und müssen mit ihr klarkommen. Auch in der Geschichte konnten wir uns unsere Nachbarn nicht aussuchen. Es geht lediglich darum, dass wir unsere Interessen bestmöglich wahrnehmen.

EU-Kommissionspräsident Barroso will mehr Kompetenzen für Brüssel, vor allem in Budgetfragen der Mitgliedsländer. Das klingt nach Zentralisierung ohne gemeinsame Basis. Die Schweiz kennt das nicht – und trotzdem funktioniert es. Wieso geht das in der EU nicht?

Baudenbacher: Wir sollten aufhören, unser Staatsmodell, das für einen Kleinstaat geschaffen wurde, übermässig zu glorifizieren und von einer «Helvetisierung der EU» zu träumen. Die EU ist unter anderen Bedingungen entstanden und hat eine andere Grössenordnung. Im übrigen nimmt niemand gern Ratschläge von Nichtmitgliedern entgegen.

Im jüngsten Europabericht des Bundesrates ist die Rede von einem gemeinsamen Gericht Schweiz-EU. Wäre das eine valable Lösung?

Baudenbacher: Nach meinem Dafürhalten ist das nicht machbar. Die bilateralen Verträge sind im wesentlichen inhaltsgleich mit dem EU-Recht. Es folgt bereits aus dem ersten EWR-Gutachten des EuGH vom 14. Dezember 1991, dass ein Gericht, dem ein EU-Richter angehören und dessen Urteile den EuGH binden würden, mit der Autonomie des Unionsrechts nicht vereinbar ist. Ich wundere mich, dass dieser Vorschlag in dem Europabericht überhaupt gemacht wurde. Offenbar hält man aber in Bern in der Zwischenzeit nicht mehr daran fest, sondern favorisiert ein sogenanntes Zwei-Pfeiler-Modell, bei dem sich beide Seiten selbst überwachen und ihre jeweiligen Gerichte zuständig sind. Auch das wird sich nicht realisieren lassen. Die EU und ihre 27 Mitgliedstaaten und die drei EWR/Efta-Staaten werden nicht akzeptieren, dass die Schweizer Regierung von einer schweizerischen Behörde überwacht wird, die ihrerseits der Kontrolle des schweizerischen Bundesgerichts untersteht.

Welche Möglichkeiten bleiben?

Das Andocken der Schweiz an die Efta-Überwachungsbehörde und den Efta-Gerichtshof, die sogenannte Docking Solution. Bern könnte versuchen, mit Norwegen, Island und Liechtenstein die Einsitznahme je eines Schweizers als Kollegiumsmitglied der ESA und als Richter am Efta-Gerichtshof auszuhandeln. Wenn die Schweiz keiner Lösung zustimmt, welche die Forderungen der EU aufnimmt, wird es wohl keine weiteren bilateralen Abkommen geben. Und für das Funktionieren der bestehenden Verträge wäre dies nicht hilfreich.

Interview:

Mélanie Knüsel-Rietmann

Carl Baudenbacher Prof. für Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht Uni St. Gallen (Bild: Quelle)

Carl Baudenbacher Prof. für Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht Uni St. Gallen (Bild: Quelle)