Im Kampf gegen die Ungleichheit

Hans Kissling steht hinter dem Volksbegehren für eine nationale Erbschaftssteuer. Wie ungleich das Vermögen hierzulande verteilt ist, fiel ihm bereits als Kind auf. Die Initiative ist für ihn kein linkes, sondern ein «urliberales» Anliegen.

Eveline Rutz
Drucken
Bild: EVELINE RUTZ

Bild: EVELINE RUTZ

ZÜRICH. Im 15-Minuten-Takt erhält Hans Kissling zurzeit Mails. «Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei ein Beratungsbüro», sagt der 71-Jährige bei einer Cola zero in der Zürcher Bahnhofshalle. Er ist einer der geistigen Väter der Erbschaftssteuer-Initiative. Journalisten, Politiker und Privatpersonen gelangen deshalb in diesen Tagen mit vielerlei Anliegen an ihn.

Dass das Vermögen im Land ungleich verteilt ist, fiel Kissling schon in jungen Jahren auf. Zusammen mit einem Bruder wuchs er in bescheidenen Verhältnissen auf; sein Vater war Schriftsetzer bei der NZZ. Dank der Hilfe eines Nachbarn konnte er die Mittelschule besuchen. Er ging ans Gymnasium Freudenberg, wo auch Kinder von der Zürcher Goldküste unterrichtet wurden. Wenn er Klassenkameraden besuchte, sah er, was Reichtum bedeutet.

Seit Jahrzehnten im Thema

Als er später dank Stipendien Volkswirtschaftslehre studierte, stiess er im Statistischen Amt des Kantons Zürich auf entsprechende Daten. «Ich habe gestaunt, wie ungleich das Vermögen verteilt ist», erinnert sich Kissling. Dem Thema widmete er seine Dissertation. Nach einem Zweitstudium arbeitete er 18 Jahre lang in der Raumplanung, ehe er 1992 Chef des Statistischen Amts wurde, welches Analysen zur Vermögensverteilung publizierte. «In den Medien fanden diese aber kaum Resonanz», erzählt Kissling. 2008, zwei Jahre nach seiner Pensionierung, gab er deshalb das Buch «Reichtum ohne Leistung» heraus. Darin zeigte er unter anderem auf, dass in Zürich ein Prozent gleich viel besitzt wie 95 Prozent der Steuerpflichtigen. Es gelang ihm, eine breite Diskussion anzustossen.

Diese war schliesslich auch die Geburtsstunde der Initiative für eine nationale Erbschaftssteuer, die am 14. Juni zur Abstimmung gelangt. Kissling wurde von der EVP kontaktiert, die bereits Initiativpläne geschmiedet hatte. Er brachte sie mit den Grünen, der SP und dem Gewerkschaftsbund an einen Tisch, denen das Thema ebenfalls unter den Nägeln brannte. 2011 lancierte diese Allianz das Volksbegehren; 2013 reichten sie über 110 000 gültige Unterschriften ein. Gemeinsam kämpfen sie nun gegen Economiesuisse, den Gewerbeverband und eine breite Allianz des bürgerlichen Lagers.

Hadern mit den Superreichen

«Unsere Gegner haben rund 100mal mehr Budget als wir», sagt Kissling. Das sei bei dem Thema nicht überraschend. Kissling ist seit Jahren Mitglied der SP, hat aber nie eine Funktion ausgeübt. «Es gibt keine andere Partei, die sich sozialer Themen so annimmt, wie ich mir das vorstelle», sagt er. Eine nationale Erbschaftssteuer sei allerdings kein linkes, sondern ein urliberales Anliegen. Ziel sei es, dass Leistung und nicht Herkunft im Vordergrund stehe. 2003 habe sich denn auch der damalige FDP-Bundesrat Kaspar Villiger für eine solche Abgabe zugunsten der AHV eingesetzt.

Kissling ist enttäuscht, dass in der aktuellen Diskussion keine Superreichen für ein Ja weibeln. In den USA herrsche da eine andere Mentalität. Als George W. Bush vor einigen Jahren die Erbschaftssteuer abschaffen wollte, hätten sich prominente Wohlhabende dagegen gewehrt. Sie hätten befürchtet, dass Leistung unterminiert werde. In der Öffentlichkeit fehlt Kissling ein solcher Support. In seinem privaten Umfeld hat er jedoch einige gutbetuchte Freunde, die seine Forderung teilen.

Seit neun Jahre im Einsatz

Den Vorwurf, von Neid getrieben zu sein, hört Kissling immer wieder. Er kontert ihn, indem er die Auswirkungen der jetzigen Ungleichheit thematisiert. «Eine so hohe Konzentration des Vermögens ist schädlich für Wirtschaft und Gesellschaft.» Bis Mitte Juni wird Hans Kissling noch alle Hände voll zu tun haben. Er wird an Podien teilnehmen, Interviews geben und Beiträge schreiben. «Manchmal geht es schon etwas an die Substanz», räumt er ein. Wie er die freie Zeit danach nutzen will, weiss er noch nicht genau. «Ich muss sie erst auf mich zukommen lassen», sagt Kissling, der zusammen mit seiner Frau in Zürich-Witikon lebt, einen Sohn und zwei Enkel hat. Seit er das Statistische Amt vor neun Jahren verlassen hat, hat er sich unermüdlich für das Thema engagiert. «Nach der Abstimmung gehe ich dann wahrscheinlich wirklich in den Ruhestand.»