Ein Bericht der Atomaufsichtsbehörde Ensi heizt die Debatte darüber an, wie viel Radioaktivität bei einem Störfall aus einem AKW austreten darf. Mit dieser umstrittenen Frage befasst sich morgen die zuständige Ständeratskommission.
Bei einem starken Erdbeben, wie es in der Schweiz statistisch alle 10000 Jahre zu erwarten ist, wäre die Bevölkerung in der Nähe von Atomkraftwerken keinerlei Gefahren ausgesetzt. Zu diesem Schluss kommt die Atomaufsichtsbehörde des Bundes. Hans Wanner, der Direktor des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi), betont: «Unter realistischen Annahmen wird keine einzige Person einer Strahlungsdosis von 100 Millisievert ausgesetzt. Es wären weder Tote noch Verletzte zu erwarten. Eine Evakuierung wäre nicht nötig.»
Der Ensi-Bericht, den diese Zeitung am Freitag publik machte, heizt die Debatte über den angemessenen Dosisgrenzwert an: Wie viel Radioaktivität darf bei einem Störfall aus einem Kernkraftwerk austreten? Über diese Frage berät morgen die Umweltkommission (Urek) des Ständerats. Der Bundesrat will einen Dosisgrenzwert von 100 Millisievert festlegen. Diesen Grenzwert würden bei einem Störfall alle AKW erfüllen – auch das älteste in Beznau AG. Dort würden im Fall eines starken Erdbebens 32 Millisievert freigesetzt.
Der Grenzwert sei viel zu grosszügig, finden atomkritische Politiker. Sie plädieren für 1 Millisievert. Der Energiekonzern Axpo hält die geforderte Senkung für rein politisch motiviert: «Medizinisch und technisch ist dieser Wert nicht begründbar – wer 1 Millisievert fordert, will ganz einfach, dass die AKW sofort abgeschaltet werden.» Somit wären die Befürworter eines schnellen Atomausstiegs doch noch am Ziel, obwohl vor zwei Jahren die Atomausstiegs-Initiative mit 54,2 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt wurde.
Nationalrat Bastien Girod (Grüne/ZH) sagt, seine Partei sei darauf vorbereitet, mit aller Kraft gegen einen Dosisgrenzwert von 100 Millisievert zu kämpfen. «Sollte die Verordnung in diesem Sinn geändert werden, dann braucht es eine Volksinitiative», sagt er. Girod stellt die Frage: «Soll ein technischer Sicherheitsgrenzwert, den nur das älteste Schweizer AKW nicht einhält, so gesenkt werden, dass Beznau noch länger weiterlaufen kann?» Girod glaubt seine Partei hinter sich; eine Resolution liege bereits vor. Eine Volksinitiative wäre laut Girod «die politisch einzig richtige Antwort» auf die Aussagen von Ensi-Direktor Hans Wanner.
Dass die ständerätliche Urek morgen über die Verordnung diskutiert, geht auf ein Postulat zurück, das nicht von einem Grünen, sondern vom Luzerner FDP-Nationalrat Damian Müller stammt. Er äussert sich kritisch: «Die Verunsicherung, die die Teilrevision der Kernenergieverordnung ausgelöst hat, geht weit über den Kreis der üblichen Verdächtigen hinaus, womit ich die Umweltverbände meine.» In der Vernehmlassung äusserte fast die Hälfte der Kantone Einwände.
Die Kraftwerkbetreiberin Axpo verteidigt die bundesrätliche Absicht. Die Verordnung ändere bezüglich der erlaubten Dosis gar nichts: Der Grenzwert von 100 Millisievert sei heute schon Praxis und würde nun bloss noch auf Verordnungsstufe verankert. «Die Schweiz hat technisch bezüglich Erdbeben, Dosislimiten und Abschaltkriterien die strengsten Vorschriften weltweit – und das bleibt so», schreibt die Axpo.
Umweltverbände bestreiten, dass der Grenzwert von 100 Millisievert heute auf das AKW Beznau angewendet werden darf. Sie sind der Meinung, es gelte 1 Millisievert. Der Streit ist Gegenstand eines Gerichtsverfahrens. Der Thurgauer SVP-Ständerat Roland Eberle ist Präsident der Umweltkommission und zugleich Axpo-Verwaltungsrat. Ihn stört die Politisierung der Grenzwert-Frage: «Wir müssen davon abkommen, alles ideologisch zu betrachten.» Er selbst werde sich als Kommissionspräsident am Dienstag erst einmal anhören, was die Fachleute zu sagen hätten.