Nach fast zwei Jahrzehnten tritt die oberste Patientenschützerin vom Präsidium der Stiftung zurück. Die Patienten seien heute besser geschützt, aber der Schutz werde angesichts des medizinischen Fortschritts immer komplexer, sagt Margrit Kessler.
Interview: Balz Bruder
Margrit Kessler, sind Sie amtsmüde?
Nein, überhaupt nicht. Aber es ist Zeit für einen Wechsel. Und es gibt noch anderes im Leben.
Sie überblicken fast 20 Jahre Patientenschutz in der Schweiz. Was waren Mitte der 1990er-Jahre die wichtigen Themen?
Die Aufklärung der Patientinnen und Patienten war damals ein wichtiges Thema. Die Gerichte bestätigten, dass der zu Heilzwecken vorgenommene ärztliche Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten widerrechtlich sei, wenn keine ausreichende Einwilligung des aufgeklärten Patienten vorliege. Das war ein grosser Schritt, der viel ausgelöst hat.
Wenn Sie in die Gegenwart wechseln: Wie steht es um die Patientenrechte heute?
Patientinnen und Patienten werden heute sicher besser aufgeklärt, wenn es um medizinische Behandlungen geht. Das ist ein Fortschritt. Umgekehrt mangelt es bei ärztlichen Fehlleistungen immer noch an der Fehlerkultur. Das bedaure ich sehr. Umso mehr, als die Patientinnen und Patienten oder betroffenen Angehörigen vor Gericht kaum eine Chance haben, zu ihrem Recht zu kommen.
Welche Fortschritte gab es in den vergangenen Jahren konkret?
Der Patientenschutz entwickelt sich entlang der grossen Linien der Gesundheitsversorgung. Die medizinischen Fortschritte sind enorm, die Entwicklung der Kosten ist es leider auch. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen: Viele Krebsleiden können behandelt werden, auch Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatitis C haben ihren Schrecken verloren. Das ist die medizinische Seite. Die Patientenseite ist die: Die Ärzte wissen inzwischen, dass die Krankengeschichte dem Patienten gehört und sie ihm diese zur Verfügung stellen müssen. Das ist zentral, wenn es um die Wahrung der Interessen und Rechte der Patientinnen und Patienten geht.
Welche Herausforderungen kamen für den Patientenschutz durch den medizinischen Fortschritt hinzu?
Wir haben ein neues Humanforschungsgesetz, das Würde, Persönlichkeit und Gesundheit des Menschen in der Forschung schützt. Es hat gewiss seine Qualitäten, schützt die Patienten bei Zwischenfällen aber viel zu wenig. Sogar die Beweislast liegt beim Patienten, obwohl er diese kaum wahrnehmen kann. Der Patient trägt also nicht nur das gesundheitliche Risiko, sondern auch das finanzielle, wenn er nach einem Zwischenfall beispielsweise nicht mehr arbeiten kann.
Digitalisierung, personalisierte Medizin usw. sind grosse Themen. Mehr Chancen oder mehr Risiken?
Richtig gemacht, würde ich von mehr Chancen reden. Das elektronische Patientendossier etwa steht kurz vor der Realisierung. Wenn es sauber geführt wird, kann es zur Kostendämmung beitragen und Doppeluntersuchungen verhindern. Es wird aber noch eine Weile dauern, bis die Wirkung sichtbar wird, weil die Arztpraxen und die Patienten das Dossier auf freiwilliger Basis führen können. Wie sich die personalisierte Medizin entwickeln wird, mag ich nicht voraussagen. Ich weiss nur eins: Günstiger wird es sicher nicht.
Sie haben sich während einer Generation für die Rechte der Patientinnen und Patienten eingesetzt. Was würden Sie rückblickend als Ihren grössten Erfolg bezeichnen?
Dass wir von der Stiftung SPO Patientenschutz den kranken Menschen eine Stimme gaben und in den Medien und der Politik als Stimme wahrgenommen werden, die nicht zu überhören ist. Und dass wir auch ein politischer Player sind, um den man nicht mehr herumkommt.
Es gab auch Schwieriges in Ihrer Ära. Zum Beispiel die Auseinandersetzung mit dem St.Galler Chefchirurgen Jochen Lange, die mit einer Verurteilung wegen Falschaussage und einer bedingten Geldstrafe und Busse für Sie endete. Wie beurteilen Sie Ihr Vorgehen aus der Distanz? Würden Sie etwas anders machen?
Nein, ich würde das wieder so machen. Als Patientenvertreterin war es meine Aufgabe, das Handeln des Chefarztes in Frage zu stellen. Er hat eins zu eins einen Rattenversuch an einer Patientin durchgeführt, und sie ist dann verstorben. Das war eine schwierige Zeit für mich und meine Familie. Aber sie hat der Stiftung die Publizität verschafft, die sie heute geniesst, und mir das Nationalratsmandat eingebracht.
Allerdings nicht für lange.
Bei den Wahlen 2015 hatte ich keine Listenverbindung mehr und wurde deshalb abgewählt. Meine Arbeit wurde aber mit einem Drittel mehr Stimmen als bei der ersten Wahl vom Stimmvolk gewürdigt. An mir lag es nicht.
Wie wichtig war Ihr Mandat für die Stiftung Patientenschutz?
Es war für die Patientenrechte sehr wichtig. Ich habe in meiner Zeit als Bundesparlamentarierin einige Vorstösse im Interesse der Patienten initiiert, die angenommen wurden und heute umgesetzt werden. Ich erinnere an die Abgabe von Cannabis an Schwerkranke oder an die Vermehrung der Ausbildungsplätze in der Humanmedizin.
Wenn von den Rechten der Patienten die Rede ist, müssen auch die Pflichten ein Thema sein, oder?
Selbstverständlich! Hat man sich für eine Therapie entschieden, sollte man sich auch an die Verordnungen halten und die Weisungen des Arztes befolgen. Und: Weniger wäre manchmal mehr – auch aus Patientensicht. Nicht alles, was möglich ist, ist sinnvoll.
Das Gesundheitswesen wird mehr und mehr zum Selbstbedienungsladen. Immer besser und immer mehr, lautet die Erwartung. Das kann nicht ewig so weitergehen.
Da bin ich einverstanden, aber es ist ein normaler Prozess – wenn man viel bezahlt, dann will man auch etwas fürs Geld haben. Die Anbieter sind Leistungserbringer, wir haben zu viele Spezialisten, und die Patienten werden häufig übertherapiert. Es ist sehr schwierig für die Patienten, abzuschätzen, ob die Indikation richtig gestellt wurde. Wir empfehlen vor Eingriffen und teuren Behandlungen eine Zweitmeinung.
Die Diskussionen um die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens werden halbherzig geführt, weil zu viele zu gut vom System leben. Was braucht es, um den gordischen Knoten durchzuhauen?
Die Kantone müssten sich zusammenraufen und Gesundheitsregionen schaffen. Jeder Kanton will so viele Leistungen wie möglich anbieten – das können wir uns immer weniger leisten. 26 Gesundheitswesen sind einfach zu viele. Fünf Regionen würden ausreichen und eine gut koordinierte Spitalplanung erlauben.
Wie können die Qualität der medizinischen Versorgung und die Zugänglichkeit zu den Leistungen gesichert werden?
Das hängt stark von den Möglichkeiten der Politik ab, die stationäre Versorgung so zu organisieren, dass sie qualitativ gute und bezahlbare Leistungen für alle erbringt.
Welche Rolle soll die Stiftung SPO Patientenschutz künftig spielen?
Es braucht die Wahrung und den Schutz der Interessen von Patienten mehr und mehr. Und zwar auf allen Ebenen: in der Politik, in der Justiz, in der Medizin, in der Gesellschaft allgemein. Und die Qualität im Interesse der Patientinnen und Patienten muss stimmen.