Der höchste Landschaftsschützer zieht in seine wohl letzte Schlacht gegen Betonwüsten

ETH-Dozent Raimund Rodewald kämpft seit bald 30 Jahren für das Gesicht des Landes. Seine Gegner kritisieren ihn als Verfechter der «Ballenberg-Schweiz». Jetzt zieht er in seine vielleicht letzte grosse Schlacht.

Dominic Wirth
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Hat in der Schweiz schon allerhand Leute geärgert: Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der Stiftung für Landschaftsschutz. (Bild: Gaëtan Bally/Keystone (Bern, 13. November 2017))

Hat in der Schweiz schon allerhand Leute geärgert: Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der Stiftung für Landschaftsschutz. (Bild: Gaëtan Bally/Keystone (Bern, 13. November 2017))

Manchmal, wenn er durchs Land fährt, vorbei an neuen Industriezonen und Dörfern, die immer weiter ausfransen, überfällt Raimund Rodewald die Ohnmacht. «Gopf», denkt er sich in solchen Momenten, ich mache zu wenig, es reicht einfach nicht. Er sagt:

«Irgendwo tickt immer ein verheerendes Baugesuch.»

Raimund Rodewald sitzt an diesem Morgen in einem Seminarraum der ETH Zürich, Campus Hönggerberg. Der Landschaftsschützer lässt den Blick zum Fenster schweifen, schaut hinaus ins Zürcher Unterland. Dort frisst sich eine Autobahn durchs Land, kleben Siedlungen an sanften Hügeln, steht ein Stall einsam auf einer grünen Wiese; es ist ein Bild, wie es sich vielerorts in der Schweiz bietet. Für Rodewald ist es eines voller Symptome der Zersiedelung.

Er prägt die Debatte seit vielen Jahren

Bald wird Raimund Rodewald 60 Jahre alt. Das macht dem höchsten Landschaftsschützer der Schweiz ein wenig Sorgen. Weil er weiss, dass ihm die Zeit allmählich ausgeht. Der Schaffhauser führt seit 27 Jahren die Geschäfte der Stiftung Landschaftsschutz. Er kennt sich mit der Raumplanung aus wie wenig andere im Land. Die dreht sich um Zonenpläne und Bauordnungen, ganz schön sperrig klingt das alles.

Doch die Raumplanung behandelt eine Frage, die kaum grösser sein könnte. Nämlich die, welches Gesicht wir unserem Land geben. Rodewald prägt die Debatte seit vielen Jahren. Und gerade wirft er sich in eine Schlacht, die seine letzte grosse werden könnte: Gestern lancierte die Stiftung Landschaftsschutz mit anderen Umweltverbänden zwei Initiativen (siehe Text unten).

Viele Ausnahmen im Gesetz

Eine will in der Raumplanung die Schrauben weiter anziehen. Mit der ist es in der Schweiz so eine Sache. Lange gab es gar keine. Das Land wuchs, wie es gerade wollte. Erst seit 2013 hat die Schweiz ein Gesetz mit Zähnen. Damals stimmte das Volk dem Raumplanungsgesetz (RPG) 1 zu. Es strafft etwa im Bereich der Bauzonen die Zügel: Die Gemeinden dürfen nur noch für den Bedarf der nächsten 15 Jahre auszonen. Überschüssige Reserven müssen zurückgezont werden.

Am Ursprung des RPG 1 stand der Druck, den die Landschafts-Initiative erzeugte. Einer der Köpfe hinter dieser Initiative, die im Jahr 2007 lanciert wurde und etwa ein 20-jähriges Bauzonenmoratorium forderte, war: Raimund Rodewald. Dank der Landschafts-Initiative bekam die Schweiz schärfere Regeln für die Schaffung neuer Bauzonen. Aber in der Schweiz wird längst nicht nur innerhalb von ihnen gebaut. Sondern auch ausserhalb. 590'000 oder ein Fünftel aller Gebäude stehen dort, und es werden immer mehr: In den letzten 24 Jahren haben die Gebäudeflächen um 21 Prozent zugenommen. Raimund Rodewald prangert das seit Jahren an. Er sagt:

«Wir haben einen gewaltigen Bauboom, wo eigentlich nicht gebaut werden sollte.»

Es liegt für ihn zu einem guten Teil am Bauen ausserhalb der Bauzonen, dass die Schweiz heute manchenorts wie ein Flickenteppich daherkommt. Und an den vielen Ausnahmen, die sich über die Jahre im Gesetz angesammelt haben. Der Bundesrat nimmt derzeit einen Anlauf, mit dem RPG 2 Ordnung ins Chaos zu bringen. Doch Rodewald ist kein bisschen zufrieden mit der Vorlage, die beim Parlament liegt. Er warnt vor einer «Kantonalisierung», weil der Bund ihnen mehr Kompetenzen geben will. Und davor, dass am Ende alles noch schlimmer werden könnte.

Druck per Initiative

Deshalb greift Rodewald mit seinen Verbündeten zu einem Rezept, das schon einmal funktioniert hat: mit einer Volksinitiative Druck erzeugen. Im Kern fordert die zweite Landschafts-Initiative, dass es ausserhalb der Bauzone keine Zunahme der Gebäudefläche geben darf. Nach den Regeln für die Bauzonen will Rodewald so auch die Regeln ausserhalb von ihnen verschärfen; es ist der zweite Teil seiner grossen Mission, die Schweiz so grün wie möglich zu halten.

Rodewald ist an diesem Morgen an die ETH gekommen, um eine Vorlesung zu halten. 90 Minuten hat er vor einer Schar junger Leute gestanden und gegen Smartphones und Laptops um Aufmerksamkeit gekämpft. Und Rodewald gewinnt, nach Punkten zwar nur, aber immerhin. Er trägt Hemd und Veston und hat doch nichts von einem Geschäftsmann. Der Schaffhauser ist ein guter Redner, spricht flüssig und frei. Es geht um Landschaftsästhetik. Um grosse Philosophen wie Plato, Sokrates, Kant und ihr Schönheitsideal. Rodewald referiert, als beschäftige er sich mit nichts anderem. Und das erzählt schon einiges über ihn.

Rodewald ist der Sohn deutscher Wirtschaftsflüchtlinge, die ihr Glück im schaffhausischen Neuhausen am Rheinfall suchen. Der Vater, ein Chemiker, findet dort bei der Aluminiumfabrik eine Stelle. Sohn Raimund entdeckt schon früh die Tierwelt, verschlingt Bücher und Filme über sie. Später leitet er WWF-Jugendgruppen, politisiert für die ökoliberale Bewegung, studiert Biologie. Und fängt schliesslich, 1990, beim Landschaftsschutz an. Zwei Jahre später wird er Chef, und er ist es bis heute ­geblieben, ein Leben, ein Arbeitgeber, «mein Traumjob», sagt er.

Wo wachsen – und zu welchem Preis?

Der höchste Landschaftsschützer hat schon überall im Land die Leute geärgert mit seinem Widerstand. Rodewald, der gefürchtete Verhinderer: Dieses Bild ist weit verbreitet. Für keine Region gilt das mehr als für das Wallis. «Ein rotes Tuch» sei Rodewald im Bergkanton, so formuliert es Thomas Egger, CVP-Nationalrat und als Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Berggebiete (SAB) ein wichtiger Lobbyist der Randregionen. Der Walliser sagt, er tue sich schwer mit Rodewalds «Ballenberg-Ideal» der Schweiz. Aber er attestiert ihm auch, dass es ihm stets um die Sache gehe, er viel wisse, taktisch geschickt sei und hartnäckig. Egger sagt:

«Rodewald ist ein harter Gegner.»

Ganz ähnlich klingt es aus dem Gewerbe, das auch ­öfter mit dem Schaffhauser zu tun hat, als es ihm lieb ist.

Wenn Rodewald einmal in der Woche von seiner Wohnung in Biel auf den Hönggerberg fährt, dann ist das eine Rückkehr zu den Wurzeln. Schon früh unterrichtete er hier im ETH-Nachdiplomstudium Raumplanung. Damals war der Campus noch kleiner, die ETH hat ihn einst auf den grünen Berg gestellt, weil es ihr unten in der Stadt zu eng wurde. Und sie ja irgendwo wachsen musste.

Wo wachsen und zu welchem landschaftlichen Preis: Das ist das Spannungsfeld, in dem sich Rodewald seit je bewegt. Wenn man ihn fragt, wie es zu lösen ist, dann holt er aus. Er spricht vom Bewusstsein für Ästhetik, das so wichtig sei, von Ehrfurcht für das Land. Aber so richtig konkret wird es nicht. Und man fragt sich, wie seine Schweiz aussehen würde. Wie vielen Menschen sie einen Platz bieten würde. Und wie vielen ein Auskommen.

«Meine Vision ist es, dass wir achtsam sind mit dem Land, egal ob das nun in der Agglomerationsstadt Schlieren ist oder im Bündner Bergdorf Vrin. Schönheit und Qualität muss es einfach überall geben.»

Gegen «Disneylandisierung» des Alpenraums

Rodewald ist ein Mann, der schnell auf der Meta-Ebene landet. Aber der 59-Jährige kann auch anders. Er schimpft dann über die «Hüüsli-Schwiiz» oder über die «Disneylandisierung des Alpenraums». Und er wehrt sich nach Kräften, wenn er findet, dass etwas nicht geht. Was ziemlich häufig der Fall ist.

Der Ruf nach schärferen Gesetzen und das gezielte Lobbying im Berner Bundeshaus ist dabei nur ein Mittel. In ihrem Jahresbericht listet die Stiftung Landschaftsschutz ein anderes fein säuberlich auf: die Zahl der erhobenen Einsprachen. Sie wächst und wächst, 1999 waren es 19, 2009 bereits 24, 2017 sogar 47. Es geht gegen neue Seilbahnen, einen Geflügelmaststall oder Strassenprojekte. Abgewiesen oder gar nicht eingetreten wird selten auf diese Einsprachen; oft handelt die Stiftung Landschaftsschutz einen Kompromiss aus. Und zieht sich dann zurück.

Raimund Rodewald weiss, dass er sich da und dort Feinde gemacht hat. Aber das hat ihn noch nie abgehalten, auch nicht von seinen neusten Initiativplänen. Touristiker, Wirtschaft, Rand­regionen, überhaupt die Kantone: Viele mächtige Akteure im Land wären von schärferen Vorschriften ausserhalb der Bauzone betroffen. Rodewalds letzte Schlacht könnte seine grösste werden.