Frankreich: Explosive Unterfinanzierung

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Ungleichgewicht François Hollande mag während seiner fünfjährigen Präsidialzeit nicht besonders viel geleistet haben – auf eine stolze Rente hat der Ex-Staatschef allemal Anspruch. Mehr als 15 000 Euro im Monat beträgt sie, wenn man die Beiträge aus früheren Mandaten aufsummiert. Im Elysée-Palast hatte der Ex-Staatschef weniger als 13 000 Euro verdient.

Sein Fall zeigt exemplarisch auf, warum das französische Rentensystem aus den Fugen gerät. Als 62-Jähriger geht Hollande bereits in Rente, verdient aber mehr als während seiner Arbeitszeit. Zum französischen Savoir-vivre gehört es eben, dass man sich nach geleisteter Lebensarbeit bequem in den Schaukelstuhl zurücklehnen darf. Während die meisten europäischen Staaten beim Rentenalter 65 angelangt sind, bleibt Frankreich bei 62 Jahren. Viele Berufe, gerade im öffentlichen Sektor, etwa die Eisenbahner, kennen sogar ein Rentenalter von 60 Jahren oder früher. Dass in der Schweiz vor allem Romands gegen die Erhöhung des AHV-Alters für Frauen sind, hat zweifellos mit der Nähe zu dieser sehr französischen Einstellung zu tun.

Pensionierte verdienen mehr als Erwerbstätige

Der Fall Hollande illustriert noch etwas: So unglaublich es klingen mag, kommen die französischen Rentner im Schnitt auf höhere Bezüge als die mehrheitlich erwerbstätige Gesamtbevölkerung. Zählt man nämlich alle Einkünfte der drei ­Säulen zusammen, beziehen die über 65-jährigen Franzosen 103 Prozent eines Durchschnittseinkommens, wie die OECD kürzlich ausgerechnet hat. Das alles geht natürlich ins Geld. Frankreichs Rentensystem verschlingt über 14 Prozent des Bruttoinlandproduktes, gegenüber 8,2 Prozent im OECD-Schnitt. Trotz steigender Abzüge bleibt die Altersversicherung – die in Frankreich fast vollständig auf dem Umlageverfahren beruht – chronisch defizitär. Nicht weniger als 36 Prozent der Renten müssen durch die normalen Steuern finanziert werden.

Erhöhung des Rentenalters bleibt tabu

Das Problem ist politisch äusserst brisant. Der 2016 verstorbene Ex-Premierminister Michel Rocard sagte einmal, das Rentenloch berge genug Zündstoff, um «fünf Regierungen in die Luft zu jagen». 2010 konnte Präsident Nicolas Sarkozy das Rentenalter wegen massiver Strassenproteste nur von 60 auf 62 Jahre erhöhen. Hollande versuchte es 2013 durch die Hintertür, indem er die Zahl der Beitragsjahre für eine Vollrente auf 43 Jahre erhöhte. Das Rentenalter selbst blieb ein Tabu. Auch Macron wagt es nicht zu erhöhen. Also versucht er die wahlpolitisch wichtigen «retraités» (Rentner) indirekt zur Kasse zu bitten, indem er die Sozialsteuer CSG erhöht und Arbeitseinkommen entlastet.

Fazit aus eidgenössischer Sicht: Vergleicht man die Rentensituation in Frankreich und der Schweiz, wirken die Probleme der AHV geradezu geringfügig. Ob die Regierung in Bern aber auch mehr Reformmut aufbringt als in Paris – das müssen am 24. September die Stimmbürger entscheiden.

Stefan Brändle, Paris