Auch Männern droht in den Ferien eine Zwangsheirat

Nach den Sommerferien häufen sich bei der Fachstelle Zwangsheirat die Meldungen über erzwungene Ehen. Knapp jeder fünfte Fall betrifft einen Mann. Dieses Jahr haben sich schon 41 von ihnen gemeldet, die Vorjahreszahl könnte damit übertroffen werden.

Maja Briner
Drucken
Zwangsheirat beim Besuch des Ursprungslandes: Auch Männer sind betroffen. (Bild: Anthony Micallef/Imago (Istanbul, 24. Juni 2015))

Zwangsheirat beim Besuch des Ursprungslandes: Auch Männer sind betroffen. (Bild: Anthony Micallef/Imago (Istanbul, 24. Juni 2015))

Maja Briner

Die Fachstelle Zwangsheirat hat im vergangenen Jahr 49 betroffene Männer beraten, im laufenden Jahr sind es bereits 41. Die Präsidentin der Fachstelle, Anu Sivaganesan, geht davon aus, dass 2017 die Vorjahreszahl übertroffen wird. «Wir stellen eine steigende Tendenz fest», sagt sie. Gerade im Spätsommer gelangen viele Betroffene an die Fachstelle: Nach den Ferien steigen die Zahlen der ratsuchenden Männer jeweils an, weil sie die im Urlaub erzwungenen Heiraten annullieren wollen.

Zwangsheiraten würden häufig als Frauenthema angeschaut, sagt Sivaganesan. Bei der grossen Mehrheit der Betroffenen, die sich an die Fachstelle wendet, handelt es sich auch tatsächlich um Frauen – nur gerade 18 Prozent sind Männer. Das heisst aber nicht, dass diese weniger häufig unter Zwang verheiratet werden. Die Dunkelziffer dürfte bei Männern noch höher sein als bei Frauen, heisst es in der bisher ein­zigen Studie des Bundes zu Zwangsheiraten in der Schweiz. Ein Grund dafür: Männer holen sich allgemein weniger rasch Hilfe als Frauen. Das zeigt sich auch bei anderen Beratungsangeboten; beim Sorgentelefon 143 der Dargebotenen Hand beispielsweise stammt nur knapp jeder dritte Anruf von einem Mann.

Erst nach Jahren kommt der Hilferuf

Ein zweiter Grund, dass sich weniger männliche Opfer melden: Männer können sich einfacher gewisse Freiheiten nehmen – gerade in traditionellen Rollenbildern. Sie können sich daher eher arrangieren und zum Beispiel neben der Ehe eine Liebesbeziehung führen. Manche «verdrängten» die Zwangsehe und änderten auch den Zivilstand nicht, sagt Sivaganesan.

Sie schildert den Fall eines albanischstämmigen Mannes, der vor drei Jahren mit einer Landsfrau im Herkunftsland verheiratet wurde. In der Schweiz hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits eine Freundin. Der Mann meldete sich erst kürzlich bei der Fachstelle – weil er seine langjährige Schweizer Freundin heiraten und sich deshalb von seiner ausländischen Frau scheiden lassen wollte.

Dabei kann es zu heiklen Situationen kommen. So etwa bei einem anderen laufenden Fall der Fachstelle – einem türkischstämmigen, in der Schweiz geborenen Mann, der zwangsverheiratet wurde. Laut der Person aus dem Beratungsteam, die den Fall betreut, werden derzeit in den Gesprächen mit dem Betroffenen zwei Möglichkeiten diskutiert: die Heirat zu annullieren oder ein Scheidungsverfahren einzuleiten. «Momentan warten wir aber noch ab, denn der Schwiegervater droht mit Mord. Da wollen wir nicht noch Öl ins Feuer giessen», sagt die Beratungsperson. Aus Sicherheitsgründen bleiben die Namen der Beratungspersonen anonym.

In solchen Dreieckssituationen mit Ehefrau und Freundin sind viele der Männer, die sich an die Fachstelle Zwangsheirat wenden. Wiederholt hat diese auch homosexuelle Männer beraten, die gegen ihren Willen mit einer Frau zwangsverheiratet wurden. «Die männliche Betroffenheit ist eine versteckte Realität, die oft vernachlässigt wird», sagt Sivaganesan. Oft würden primär Frauen als Opfer und Männer als Täter von Zwangsheiraten gesehen. Hier brauche es Sensibilisierung: Auch Männer seien Opfer – und auch Frauen Täterinnen.

Bereits vor fünf Jahren hatte die Studie des Bundes zu Zwangsheiraten «spezielle Anstrengungen zur Sensibilisierung der Männer» für nötig eingestuft. Noch fehlten aber genügend Anlaufstellen für betroffene Männer, sagt Sivaganesan. Zum Beispiel gebe es schweizweit noch zu wenige Männerhäuser. Diese bieten Zuflucht für Männer, die etwa nach einem Streit oder wegen Drohung von Familienangehörigen ihr Zuhause verlassen wollen. Das Angebot wächst indes: Der Verein Zwüschehalt, der im Aargau das erste Männerhaus der Schweiz aufgebaut hat, eröffnete diesen Sommer gleich zwei weitere Männerhäuser in Luzern und Bern.