Die geplante unilaterale Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips hebt die Anpassung an das Recht der EU auf eine neue Stufe – und legt gleichzeitig die Schwächen der Schweizer Europapolitik offen.
Seit dem Nein zum EWR 1992 nähert sich die Schweiz der Europäischen Union immer mehr an – zumindest was die Gesetze anbelangt. Zahlen, wie weit das schweizerische Wirtschaftsrecht mittlerweile mit dem EU-Recht übereinstimmt, sind beim Integrationsbüro des Bundes nicht erhältlich. Doch der Trend ist unverkennbar: Die EU regelt, die Schweiz zieht nach. Jüngstes Beispiel ist die vom Bundesrat geplante Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips: Produkte, die in einem EU-Staat zugelassen sind, sollen künftig ohne weitere Kontrollen in die Schweiz eingeführt werden können.
Mit der Vorlage erhält die schweizerische Annäherung an die EU eine neue Qualität. Bislang beruhte die Integration in den europäischen Markt auf zwei Pfeilern: dem autonomen Nachvollzug von europäischem Recht sowie dem Abschluss bilateraler Verträge. Beim autonomen Nachvollzug passt die Schweiz ihr eigenes Recht systematisch jenem der EU an. Mit den bilateralen Abkommen werden die Regelungen mit der EU ausgehandelt.
Doch die geplante Übernahme des Cassis-de-Dijon-Prinzips geht einen Schritt weiter, sowohl was den Regelungsgegenstand anbelangt als auch was das Vorgehen betrifft: Denn das Cassis-de-Dijon-Prinzip ist gewissermassen die Magna Charta des europäischen Freihandels. Und die Übernahme erfolgt nicht in mühsamer Kleinarbeit, indem das Schweizer Recht Punkt für Punkt im Sinne des autonomen Nachvollzugs dem ausländischen Recht angeglichen wird. Stattdessen genügt ein einziger Artikel, mit dem die Produktevorschriften der EU-Staaten und der EU selber als für die Schweiz ausreichend definiert werden.
Dieser Unilateralismus weckt Bedenken, nicht nur bei der SVP. Deren Pressesprecher Alain Hauert sagt auf Anfrage: «Es darf nicht sein, dass die Schweiz einseitig die europäische Rechtsprechung einführt.» Die Kritik kommt aber auch aus ungewohnter Ecke. Die Europa-freundliche Neue Europäische Bewegung Schweiz (Nebs) beklagt in einer Mitteilung den «massiven Souveränitätsverlust» durch die einseitige Anerkennung europäischer Produktionsnormen. Über die Alternativen zum neuen Unilateralismus sind sich Nebs und SVP freilich uneins. Die SVP schickt den Bundesrat in ihrer Vernehmlassungsantwort auf den bilateralen Weg. Die Nebs möchte den EU-Beitritt wieder aufs Tapet bringen. Ein solcher würde gemäss Nebs die «demokratische Souveränität weitaus weniger einschränken».
Das Ringen um den Königsweg in Richtung europäischer Markt zeigt vor allem eins. Der Manövrierraum für die Schweiz wird immer enger.
• Der Preis des autonomen Nachvollzugs ist ein «semi-kolonialer Status», wie es Dieter Freiburghaus, emeritierter Professor für Politik und Verwaltungswissenschaften in Lausanne, bereits vor vier Jahren überspitzt formulierte. Die Schweiz übernimmt Regelungen, an deren Entstehung sie nicht mitgewirkt hat. Hinzu kommt: Der Nachvollzug allein garantiert der Schweizer Wirtschaft den EU-Marktzugang noch nicht. Hierfür ist die gegenseitige Anerkennung der Gesetzgebung und damit eine vertragliche Regelung notwendig.
• Im Rahmen der bilateralen Abkommen wiederum übernimmt die Schweiz de facto das Recht der EU. Zu gross ist der Druck, Konzessionen einzugehen. Der Bundesrat schreckt deshalb zunehmend vor Verhandlungen zurück.
• Bleibt die unmittelbare Anerkennung ausländischer Regelungen wie im Falle des Cassis-de-Dijon-Prinzips: Das Vorgehen sichert Schweizer Unternehmen keinen Marktzutritt, erlaubt es dem Parlament dafür, Bereiche festzulegen, in denen die Schweiz auf eigenen Standards beharrt. Die Crux dabei: Je mehr Bereiche das Parlament vom Cassis-de-Dijon-Prinzip ausnimmt, desto geringer fällt der erhoffte Wachstumsimpuls aus. Zudem verbleibt dem Parlament nur die Definition der Ausnahmen. Die Regeln werden in den EU-Mitgliedstaaten gemacht.